Text übernommen von Gastvorträgen am FHI (Oxford University) und bei der Charity International Happiness Conference(2007) veranstaltet wurden.

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Laufzeit 34 Minuten

DAS ABOLITIONISTISCHE PROJEKT


EINLEITUNG

In diesem Vortrag geht es um das Leid – und wie es überwunden werden kann.
Ich sage voraus, dass wir das Leid in der gesamten belebten Welt abschaffen werden.
Unsere Nachfahren werden in wachsendem Maß von genetisch vorprogrammiertem Wohlbefinden animiert sein, und zwar in Größenordnungen, die weit über unseren gegenwärtigen Hochgefühlen liegen.

Zunächst möchte ich darlegen, weshalb es technisch machbar ist, die biologischen Ursachen jeder Art von unangenehmer Erfahrung – sowohl psychischer als auch physischer Schmerzen – zu beseitigen.
Danach werde ich auf die hohe moralische Dringlichkeit des abolitionistischen Projekts eingehen – welche unabhängig davon ist, ob man dem ethischen Utilitarismus anhängt oder nicht.
Abschließend werde ich erörtern, weshalb eine Revolution in der Biotechnologie zur Folge hat, dass genau dieser Fall eintreten wird, wenn auch nicht annähernd so schnell, wie er sollte.

1. WESHALB ES TECHNISCH MACHBAR IST

Bedauerlicherweise werden wir das Leid nicht durch sozio-ökonomische Reformen, exponentielles wirtschaftliches Wachstum, technischen Fortschritt im üblichen Sinne – oder eines der anderen traditionellen Patentrezepte gegen die Übel dieser Welt – abschaffen, zumindest nicht ausschließlich dadurch. Das Verbessern der äußeren Umgebung ist bewunderswert und wichtig; jedoch können derlei Verbesserungen unsere hedonische Tretmühle nicht über einen genetisch vorgegebenen Grenzwert hinaus neu kalibrieren. Zwillingsstudien belegen, dass es einen [teilweise] erblichen Sollwert für das Wohlbefinden – bzw. dessen Gegenteil – gibt, um den herum wir alle im Verlauf unseres Lebens schwanken. Dieser Wert ist individuell verschieden. [Es ist möglich, unseren hedonischen Sollwert zu senken, indem wir uns über einen längeren Zeitraum unkontrolliertem Stress aussetzen. Doch selbst diese Neu-Einstellung ist nicht so einfach, wie es den Anschein haben mag: In Kriegszeiten sinken für gewöhnlich die Selbstmordraten; und Studien1 deuten darauf hin, dass Menschen, die durch einem Unfall eine Querschnittslähmung erlitten haben, sechs Monate nach dem katastrophalen Ereignis weder mehr noch weniger unglücklich sind als zuvor.] Leider können Versuche, eine ideale Gesellschaft zu errichten, diesen biologischen Grenzwert nicht überwinden – weder rechte noch linke Utopien, weder marktwirtschaftliche noch sozialistische, religiöse oder profane, weder futuristische High Tech noch das einfache Bestellen des eigenen Gartens. Selbst für den Fall, dass all das eintritt, was traditionelle Futuristen postulieren – ewige Jugend, unbegrenzter materieller Reichtum, morphologische Freiheit, Superintelligenz, immersive virtuelle Realität, molekulare Nanotechnologie, etc. – gibt es keine Anzeichen dafür, dass (in Ermangelung einer Belohnungsverstärkung) unsere durchschnittliche subjektive Lebensqualität die unserer Jäger- und Sammler-Vorfahren – bzw. eines heute lebenden Eingeborenen aus Neu-Guinea – übersteigen würde. Diese Behauptung ist ohne hoch entwickeltes Neuro-Scanning schwer zu belegen, jedoch wird sie von objektiven Indikatoren psychischen Leidens, wie z. B. Selbstmordraten, bekräftigt. Nicht-optimierte Menschen sind stets dem gesamten Spektrum Darwin'scher Emotionen ausgesetzt, was sowohl schreckliches Leid als auch unbedeutende Enttäuschung und Frustration einschließt – Traurigkeit, Beklemmung, Eifersucht und existentielle Angst. Ihre Biologie ist Teil dessen, „was es bedeutet, Mensch zu sein“.

Subjektiv unerfreuliche Bewusstseinszustände existieren, da sie genetisch adaptiv sind. Jede unserer Grundemotionen hatte im Verlauf unserer evolutionären Vergangenheit eine genau definierte Signalfunktion, die bestimmte Verhaltensweisen förderte und auf diese Weise die Gesamtfitness des Genmaterials in der jeweiligen Umgebung verbesserte.

Da die Veränderung der äußeren Umgebung allein Leid und Unwohlsein niemals aufheben kann, stellt sich die Frage, was auf technischem Wege möglich ist.

Im Folgenden drei Szenarien in der Reihenfolge einer zunehmenden soziologischen Plausibilität:

a) Wireheading
b) Utopische Designerdrogen
c) Gentechnik
und – worauf ich mich konzentrieren möchte – die bevorstehende reproduktive Revolution in Form von Designer-Babys

a) Zur Erinnerung: Wireheading ist die direkte Stimulierung der Lustzentren im Gehirn durch implantierte Elektroden. Intrakraniale Selbststimulation weißt keinerlei physiologische oder subjektive Toleranz auf, d.h. sie ist nach zwei Tagen ebenso angenehm wie nach zwei Minuten. Wireheading schadet anderen Menschen nicht, der ökologische Fußabdruck ist gering, es unterbindet psychischen und physischen Schmerz und ist der menschlichen Würde wohl wesentlich weniger abträglich als Sex. Zugegeben, eine lebenslange Anwendung des Wireheading ist nur für einige wenige schwer depressive Personen eine attraktive Aussicht. Welche technischen Argumente sprechen jedoch gegen seine Einführung?

Wireheading ist keine dauerhafte evolutionäre Lösung, ein Selektionsdruck wäre die Folge einer weit verbreiteten Einführung. Wireheading fördert nicht das Hege- und Pflegeverhalten. Wireheads – sowohl menschliche als auch nicht-menschliche – möchten keine Wirehead-Babys großziehen. Einheitliche, undifferenzierte Glücksseligkeit unter dem Deckmantel des Wireheading (oder einem Äquivalent) würde das menschliche Experiment in der Tat zum einem Ende bringen, zumindest bei dessen globaler Einführung. Direkte Neurostimulation der Belohnungszentren zerstört die informationelle Sensibilität gegenüber Umweltreizen. Vorausgesetzt, wir wollen klug sein – und noch klüger werden – haben wir die Wahl. Intelligente Agenten können eine Motivationsstruktur aufweisen, die auf verschiedenen Stufen des Unwohlseins basiert, das Charakteristikum einiger lebenslang depressiver Personen. Sie können jedoch auch die derzeit typische Mischung aus Freude und Kummer zeigen. Alternativ dazu ist eine informationelle Ökonomie des Geistes denkbar, die ausschließlich auf [adaptiven] Abstufungen zerebraler Glückseligkeit gründet – wofür ich mich ausspreche.

Eigentlich ist diese Verwerfung des Wireheadings jedoch zu früh, denn für die ferne Zukunft ist es nicht auszuschließen, dass alles Unerfreuliche und Alltägliche auf nicht-organische Supercomputer, Prothesen oder Roboter ausgelagert werden kann („Offloading“), während wir uns einem uniformen orgiastischen Glückgefühl hingeben – vielleicht nicht orgiastisch, möglicherweise aber einer anderen Art von idealem Status, der schlichtweg nicht verbessert werden kann. Aber das ist spekulativ. Was immer auch letzlich unser Ziel sein wird, ich halte es für vernünftiger, sowohl Superglück als auch Superintelligenz anzustreben, zumindest so lange, bis wir die gesamten Auswirkungen unseres Handelns verstehen. Für eine Maximierung des Superglücks besteht keine vergleichbare moralische Dringlichkeit wie für die Abschaffung des Leids.

[Man sollte anmerken, dass die Offloading-Option davon ausgeht, dass nicht-organische Computer, Prothesen und Roboter subjektiv keine großen Schmerzen empfinden können (oder zumindest nicht müssen), selbst wenn es ihre funktionale Architektur erlaubt, schädliche Stimuli zu vermeiden bzw. darauf zu reagieren. Das Fehlen nicht-organischen Leidens ist, was existierende Computer betrifft, ziemlich unbestritten – das Abschalten eines PCs birgt keinerlei ethische Implikationen, und ein computergesteuerter Roboter kann dergestalt programmiert werden, dass er ätzende Säuren meidet, jedoch keine Qual verspürt, wenn er beschädigt wird. Es ist umstritten, ob irgendein Computersystem mit einer klassischen von-Neumann-Architektur jemals als bewusst bezeichnet werden kann. Ich bin skeptisch. Wie auch immer, dies berührt nicht die Offloading-Option, es sei denn, man argumentiert, dass die subjektive Beschaffenheits des Leids funktionelle Voraussetzung für jedes System ist, das in der Lage ist, schädliche Stimuli zu vermeiden.]

b) Die zweite technische Möglichkeit zur Ausmerzung des Leids sind futuristische Designerdrogen. Wird es im Zeitalter einer ausgereiften post-genomischen Medizin in vernünftiger Weise möglich sein, wirklich ideale Freudendrogen zu entwerfen, die ein lebenslanges hochfunktionales Wohlgefühl bewirken, ohne inakzeptable Nebenwirkungen zu zeigen. Der Begriff „Ideale Freudendroge“ ist hier nur als eine Art Kürzel zu verstehen. Solche Drogen können prinzipiell zerebrales, empathisches, ästhetisches und unter Umständen auch spirituelles Wohlbefinden umfassen – und nicht nur hedonistische Lust im üblichen eindimensionalen und amoralischen Sinn.
Wir reden hier weder über entspannende Stimmungsaufheller, die einfach die Gehirnmechanismen des negativen Feedbacks in Gang setzen, noch über die seichte, opiatgeschwängerte Zufriedenheit einer „Brave New World“; auch nicht über Drogen, die eine euphorische Manie hervorrufen, einhergehend mit unkontrollierter Erregung, dem Verlust kritischer Einsicht, Grandiosität und hochtrabenden Ideen. Sind wir in der Lage, echte Wunderdrogen zu entwickeln, die auf einer dauerhaften Basis ein sublimes Wohlbefinden hervorrufen, die unsere hedonische Tretmühle neu kalibrieren können, um so eine hohe Lebensqualität für alle sicherzustellen?

Eine Menge Leute schrecken vor dem Wort „Drogen“ zurück, verständlich, in Anbetracht der gängigen schädlichen Straßendrogen und ihrer nicht eben aufregenden medizinischen Gegenstücke. Doch selbst die Akademiker und Intellektuellen unserer Gesellschaft konsumieren die prototypische dumme Droge: Äthylalkohol. Wenn es gesellschaftlich akzeptabel ist, eine Droge zu nehmen, die vorübergehend froh und dumm macht, warum dann nicht auf vernünftige Weise Drogen entwickeln, die den Menschen fortdauernd glücklicher und klüger machen? Vermutlich würde man, um das Missbrauchspotential zu begrenzen, wollen, dass jede ideale Lustdroge – in einem einzigen, jedoch äußerst wichtigen Sinne – mit dem Nikotin verwandt ist, bei welchem das Gehirn des Rauchers den optimalen Level genau kalibriert: Es kommt zu keiner unkontrollierten Dosiserhöhung.

Natürlich bergen die auf Drogen basierenden Lösungen alle möglichen Fallstricke. Ich denke zwar, dass diese – technisch gesehen – überwunden werden können, möchte hier jedoch nicht näher darauf eingehen. Es gibt ein tiefer liegendes Problem. Wäre nicht mit unserem existierenden natürlichen Bewusstseinzustand, wie ihn uns die Evolution hinterlassen hat, grundlegend etwas falsch – oder zumindest unzureichend – dann wären wir wohl kaum so erpicht darauf, etwas zu verändern. Selbst wenn es uns nicht schlecht geht, so ist doch unserer alltägliches Bewusstsein, verglichen mit dem, was wir als Hochgefühl bezeichnen, ziemlich mittelmäßig. Ein gewöhnliches Alltagsbewusstsein war vermutlich in dem Sinne adaptiv, als es unsere Gene dabei unterstützt hat, mehr Kopien von sich selbst in der afrikanische Savanne zu hinterlassen; warum jedoch dies als Standardzustand für alle Zeiten aufrecht erhalten? Warum verändern wir nicht die menschliche Natur, indem wir unseren genetischen Code buchstäblich reparieren?

Noch einmal: Diese Ablehnung pharmakologischer Lösungen ist möglicherweise etwas vorschnell. Utopische Designerdrogen sind wohl stets hilfreich für eine fein abgestimmte und leicht reversible Bewusstseinskontrolle, und ich denke, dass sie ein unentbehrliches Hilfsmittel zur Erforschung der verschiedenen Bereiche des bewussten Geistes sein werden. Aber wäre es nicht besser, wenn wir alle mit einer genetischen Prädisposition zu einer psychischen Supergesundheit geboren würden, anstatt auf dauerhafte Selbstmedikation angewiesen zu sein? Würde selbst der glühendste Anhänger des Abolitionismus vorschlagen, allen Kindern von Geburt an Drogencocktails zu verabreichen und dies für den Rest des Lebens fortzusetzen?

c) Drittens gibt es die genetischen Lösungen, was sowohl somatische als auch Keimbahntherapie umfasst. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass es eine kleine Anzahl von Menschen gibt, die immer depressiv oder dysthymisch sind, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Studien mit ein- und zweieiigen Zwillingen belegen, dass die Veranlagung für Depressionen in einem hohem Maße erblich bedingt ist. Im Gegensatz hierzu besitzen einige Menschen ein optimistisches Temperament. Jenseits der Optimisten existiert eine sehr kleine Gruppe von Personen, die von Psychiatern als hyperthym bezeichnet wird. Hyperthyme Personen sind weder manisch noch bipolar, gemessen am derzeitigen Standard sind sie jedoch stets überaus glücklich, manchmal sogar glücklicher als andere. Hyperthyme Menschen reagieren „angemessen“ und anpassungsfähig auf ihre Umwelt. Sie gelten im Allgemeinen als energiegeladen, produktiv und kreativ. Selbst im Zustand großen Glücks sind sie nicht „überdreht“.

Was, wenn wir als gesamte Zivilisation die Möglichkeit hätten, genetisch hyperthym zu werden, also ein Motivationssystem annehmen könnten, das ausschließlich auf den adaptiven Stufen unseres Wohlbefindens beruht. Radikaler ausgedrückt: Wenn die genetische Basis des hedonischen Tonus bekannt ist, könnten wir dann nicht viele zusätzliche Kopien von Hyperthymie-begünstigenden Genen/Allelkombinationen, sowie deren regulatorische Promotoren bilden – zwar Homöostase und die hedonische Tretmühle nicht abschaffen, unseren hedonischen Sollwert jedoch auf eine wesentlich höhere Ebene heben?

Hierzu drei Anmerkungen:
Erstens: Zunächst mag es den Anschein haben, dass mit dieser genetischen Neukalibrierung eine andere Art von Uniformität in Kauf genommen wird, jedoch sollte man sich ins Gedächtnis rufen, dass glücklichere Menschen – und ganz besonders hyperdopaminergische – in der Regel auf eine größere Bandbreite von potentiell belohnenden Stimuli ansprechen als depressive: Sie zeigen ein wesentlich neugierigeres Verhalten. Dadurch laufen sowohl der optimierte Einzelne wie auch die posthumane Gesellschaft als Ganzes weniger Gefahr, in einem sub-optimalen Trott stecken zu bleiben.

Zweitens: Eine universale Hyperthymie mag wie ein gigantisches Experiment anmuten, und in gewisser Hinsicht ist sie das natürlich auch. Aber jede sexuelle Reproduktion ist ein Experiment. Wir spielen genetisches Roulette, mischen unsere Gene und werfen dann den genetischen Würfel. Die meisten von uns zucken bei dem Wort „Eugenik“ zusammen, aber genau das praktizieren wir – auf eine plumpe und inkompetente Weise – wenn wir unseren zukünftigen Partner auswählen. Der Unterschied liegt darin, dass in den kommenden Jahrzehnten künftige Eltern hinsichtlich ihrer reproduktiven Entscheidungen in wachsendem Maße rational und verantwortungsvoll handeln können. Präimplantationsdiagnostik wird zur Routine werden, künstliche Gebärmuttern befreien uns von den Einschränkungen des menschlichen Geburtskanals, und eine Revolution in der reproduktiven Medizin wird nach und nach das alte Darwin'sche Lotteriespiel ersetzen. Die Frage ist nicht, ob es eine reproduktive Revolution geben wird, sondern vielmehr welche Arten des Seins – und welche Arten des Bewusstseins – wir erzeugen wollen.

Drittens: Wird diese reproduktive Revolution nicht das Vorrecht reicher Eliten des Westens sein? Wahrscheinlich nicht lange. Vergleichen Sie die kurze Zeitspanne zwischen der Einführung von, sagen wir, Mobiltelefonen und deren weltweiter Verbreitung mit dem 50-jährigen Zeitraum zwischen Einführung und weltweiter Verbreitung des Radios und dem 20-jährigen Zeitraum beim Fernsehen. Die Zeitspanne zwischen anfänglicher Einführung und der globalen Akzeptanz neuer Technologien nimmt rapide ab. Der Preis natürlich ebenfalls.

Einer der Vorteile einer genetischen Neukalibrierung der hedonischen Tretmühle gegenüber deren vollständiger Abschaffung (zumindest in absehbarer Zukunft) liegt darin, dass die funktionalen Analogien von Schmerz, Angst, Schuld und sogar Depression – ohne deren unangenehme Qualia, wie wir sie heute verstehen – bewahrt werden können. Wir können die funktionalen Analogien der Unzufriedenheit – anscheinend der Motor des Fortschritts – beibehalten, Urteilsvermögen und kritische Einsicht erhalten, die bei manischer Euphorie fehlen. Selbst wenn der hedonische Tonus massiv verbessert und unsere Belohnungszentren physisch und funktionell verstärkt sind, ist es prinzipiell dennoch möglich, vieles in der Stuktur unserer Vorlieben zu erhalten. Wenn Sie Mozart Beethoven oder die Philophie einer Reißzwecke vorziehen, würde sich diese Rangfolge auch bei einem sehr stark verbesserten hedonischen Tonus nicht verändern.

Meiner Ansicht nach wäre es besser, die Struktur unserer Vorlieben radikal zu verändern, und eine [bitte entschuldigen Sie den Jargon] „Re-Enzephalisierung der Emotionen“ anzustreben. Evolution durch natürliche Auslese hat uns – zum Nutzen unserer Gene – dafür empfänglich gemacht, alle möglichen Arten von dysfunktionalen Verhaltensweisen anzunehmen, die sowohl uns selbst als auch anderen schaden. Erinnern wir uns an Dschingis Khan: „Das höchste Glück ist es, seine Feinde zu zerstreuen, sie vor sich herzutreiben, ihre Städte zerstört zu sehen, diejenigen, die sie lieben, in Tränen zerflossen, und ihre Frauen und Töchter in sein Herz zu schließen.“

Es heißt, dass es unter Akademikern nicht ganz so schlimm zugeht, aber auch das Universitätsleben hat seine Formen urbaner Wildheit – konkurrenzbetontes Statusstreben, die Dominanzrituale der Alpha-Tiere: ein Nullsummenspiel mit vielen Verlierern. In zu vielen unserer Vorlieben spiegeln sich unangenehme Verhaltensweisen und Geisteszustände wider, die in der Umwelt unserer Vorfahren genetisch sinnvoll waren. Wäre es daher nicht besser, unseren eigenen unbrauchbaren Code zu überschreiben? Ich habe mich hier auf die genetische Verbesserung des hedonischen Tonus konzentriert. Eine Meisterschaft in der Biologie der Emotionen würde aber auch bedeuten, dass wir beispielsweise in der Lage sind, unsere Fähigkeit zur Empathie zu verbessern, die Funktionalität der Spiegelneuronen zu verstärken und eine konstant erhöhte Oxytocin-Ausschüttung zu konstruieren, um Vertrauen und Gemeinsinn zu fördern. Desgleichen können wir die molekularen Signaturen von, sagen wir, Spiritualität, ästhetischem Empfinden oder unserem Sinn für Humor identifizieren – und deren psychische Mechnismen modulieren oder „überbetonen“. Aus informationstheoretischer Sicht ist für eine angemessene, flexible und intelligente Reaktion auf unsere Umwelt nicht ein absoluter Punkt auf der hedonischen Skala maßgeblich, sondern dass wir in der Lage sind, zu differenzieren. Tatsächlich definieren Informationstheoretiker den Begriff Information manchmal schlicht als „Unterschied, der einen Unterschied macht“.

Um es noch einmal zu betonen: Eine Re-Enzephalisierung der Emotionen ist optional. Technisch ist es möglich, in jedem fühlenden Wesen ein Wohlbefinden zu konstruieren und dabei das meiste (jedoch nicht alles) in der Struktur unserer Vorlieben beizubehalten. Die drei technischen Optionen zur Abschaffung des Leids, die ich hier vorgestellt habe – Wireheading, Designerdrogen und Gentechnologie – schließen einander nicht aus. Sind sie vollständig? Ich kenne keine weiteren durchführbaren Methoden. Einige Transhumanisten glauben, dass wir eines Tages alle gescannt, digitalisiert, in nicht-organische Computer hochgeladen und neu programmiert werden könnten. Nun, vielleicht. Ich bin allerdings skeptisch. Jedenfalls verhindern wir damit nicht das Leid des derzeit existierenden organischen Lebens, es sei denn, wir schließen ein so genanntes destruktives Uploading mit ein. Eine Holocaust-Option, die ich hier nicht einmal in Betracht ziehen möchte.

2. WARUM ES GESCHEHEN SOLLTE

Gehen wir einmal davon aus, dass wir innerhalb der nächsten paar Jahrhunderte diese gottähnliche Macht über unsere Gefühle erlangen. Gehen wir weiterhin davon aus, dass die Signalfunktion von unangenehmen Erfahrungen ersetzt werden kann – entweder durch die hier favorisierte Neu-Kalibrierung oder durch das Auslagern („Offloading“) alles Unangenehmen und aller Routine auf nicht-organische Prothesen, bionische Implantate oder nicht-organische Computer – oder vielleicht durch das gänzliche Elimieren von so etwas wie Eifersucht. Warum also sollten wir alle Abolitionisten sein?

Wenn man ein klassischer Utilitarist ist, muss das abolitionistische Projekt zwangsläufig folgen: Es ist Bentham plus Biotechnologie. Man muss kein klassischer Utilitarist sein, um eine Abschaffung des Leids zu befürworten, aber alle klassischen Utilitaristen sollten sich dem abolitionistischen Projekt anschließen. Bentham trat für soziale und legislative Reformen ein, die – so weit sie gehen – auch gut sind, jedoch lebte er vor dem Zeitalter von Biotechnologie und genetischer Medizin.

Für einen wissenschaftlich erleuchteten Buddhisten ist das abolitionistische Projekt ebenfalls die logische Folge. Buddhisten, einzigartig in den Religionen der Welt, konzentrieren sich vorrangig auf das Leid in der belebten Welt. Buddhisten mögen denken, der Edle Achtfache Pfad böte einen sichereren Weg zum Nirwana als die Gentechnologie, aber im Prinzip ist es für einen Buddhisten schwierig, gegen die Gentechnologie zu argumentieren, solange sie funktioniert. Buddhisten konzentrieren sich auf die Überwindung des Leids durch das Auslöschen des Verlangens. Es sollte jedoch erwähnt werden, dass diese Auslöschung technisch optional ist und möglicherweise zu gesellschaftlicher Stagnation führt. Stattdessen ist es möglich, das Leid abzuschaffen und zugleich weiterhin alle Arten von Wünschen zu haben.

Anhänger des Islam und der jüdisch-christlichen Tradition zu überzeugen, ist eine größere Herausforderung. Die Gläubigen behaupten (trotz Anomalien in der empirischen Evidenz), dass Allah/Gott unendlich mitfühlend und barmherzig ist. Wenn also gewöhnliche Sterbliche das Wohlbefinden aller Fühlenden ins Auge fassen können, erscheint es blasphemisch, zu behaupten, das Ausmaß von Gottes Wohlwollen sei eingeschränkt.

Die meisten zeitgenössischen Philosophen sind keine klassischen Utilitaristen, Buddhisten oder Theisten. Warum sollte ein, sagen wir, ethischer Pluralist das abolitionistische Projekt ernst nehmen? Hier möchte ich statt meiner eigenen Worte Shakespeare bemühen:

„Denn noch niemals gab es einen Philosophen,
der geduldig das Zahnweh ertragen konnte“
[Viel Lärm um nichts, Erster Aufzug, Fünfte Szene (Leonato)]

Wenn man von qualvollen körperlichen Schmerzen heimgesucht wird, ist man immer wieder schockiert darüber, wie fürchterlich dies sein kann.
Es ist verlockend, anzunhemen, dass rein „psychischer“ Schmerz – Einsamkeit, Zurückweisung, Existenzangst, Trauer, Beklemmung und Depression – nicht so grauenhaft sein kann wie extreme körperliche Schmerzen. Doch ist seelische Verzweiflung der Hauptgrund dafür, dass sich weltweit mehr als 800.000 Menschen pro Jahr das Leben nehmen. Nicht, dass andere Dinge – große Kunst, Freundschaft, soziale Gerechtigkeit, Sinn für Humor, das Kultivieren eines edlen Charakters, akademische Bildung etc. – keinen Wert hätten, wenn jedoch intensiver physischer oder psychischer Schmerz ins Spiel kommt, sei es im eigenen oder im Leben eines geliebten Menschen, stellen wir fest, dass dieser Schmerz unmittelbar vorrangig und dringlich ist. Wenn Sie sich vor Schmerzen winden, weil Sie sich gerade Ihre Hand in einer Tür eingeklemmt haben, werden Sie jeden schroff abfertigen, der Ihnen nahelegt, sich doch an die schöneren Dinge im Leben zu erinnern. Wenn Sie nach einer unglücklichen Liebesbeziehung verzweifelt sind, dann möchten Sie nicht taktloserweise darauf aufmerksam gemacht werden, dass draußen schönes Wetter ist.

Solange sie andauern, sind extremer Schmerz und seelische Verzweiflung derart dringlich und vorrangig, dass sie alles andere in den Hintergrund drängen. Aber weshalb fahren wir, wenn das Elend vorüber ist, mit unserem Leben nicht einfach genauso fort wie zuvor?
Nun, die Naturwissenschaft strebt einen „Blick von nirgendwoher“ an, einen fiktiven Blick durchs göttliche Auge. Physiker sagen, dass kein „Hier und Jetzt“ über ein irgendein anderes den Vorzug genießt, dass alle gleichermaßen real sind. Wissenschaft und Technologie werden uns in Bälde eine gottähnliche Macht über die gesamte belebte Natur verleihen, die dieser gottähnlichen Perspektive entspricht. Ich trete dafür ein, dass, so lange es ein fühlendes Wesen gibt, das auf ähnliche Weise leidet wie wir selbst, dieses Leid die gleiche Priorität und Dringlichkeit haben sollte, als wenn es unser eigenes oder das Leid eines geliebten Menschen wäre. Mit der Macht kommt die Mitschuld. Gottähnliche Macht bedeutet auch gottähnliche Verantwortung. So war das Vorhandensein von Leid beispielsweise vor 200 Jahren mit Sicherheit schrecklich, doch konnte man es bestimmt nicht als „unmoralisch“ bezeichnen, da man nicht viel dagegen tun konnte. Dank der Biotechnologie ist dies nun möglich – oder wird es bald sein. Im Laufe der nächsten Jahrhunderte wird jede Form von Leid zu einer Option werden.

Wenn man kein klassischer ethischer Utilitarist ist, liegt der Vorteil einer Neukalibrierung der hedonischen Tretmühle – gegenüber einer simplen Maximierung des Superglücks – darin, dass zumindest ein wiedererkennbarer Teil unserer derzeitigen Vorliebensstruktur erhalten bleibt. Eine Neukalibrierung der hedonischen Tretmühle kann mit einem bestehenden Werteschema in Einklang gebracht werden. Folglich kann sogar ein so genannter Präferenzutilitarist zufrieden gestellt werden. In der Tat bedeutet eine Kontrolle über die eigenen Gefühle, dass man seinen Lebensplan effektiver nachgehen kann. Und was hat es mit der angeblich charakterbildenden Funktion des Leids auf sich? „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“, sagte Nietzsche. Diese Sorge scheint fehl am Platz. Bei Gleichheit anderer Faktoren stärkt eine Verbesserung des hedonischen Tonus die Motivation – es macht uns psychisch widerstandsfähiger. Im Gegensatz dazu führen anhaltende Stimmungstiefs zu Syndromen erlernter Hilflosigkeit und verhaltensmäßiger Verzweiflung.

Den Werte-Nihilisten habe ich nicht ausdrücklich angesprochen – den Subjektivisten oder ethischen Skeptiker, der behauptet, dass alle Werte schlichtweg Ansichtssache seien, und dass es unmöglich ist, auf logische Weise ein „sollte“ von einem „ist“ abzuleiten. Nehmen wir an, ich winde mich vor Qualen, weil meine Hand auf einem heißen Ofen liegt. Der Schmerz ist an sich schon Motivation, selbst wenn meine Überzeugung, dass ich die Hand lieber wegnehmen sollte, nicht dem formalen Kanon eines logischen Rückschlusses folgt. Nimmt man das wissenschaftliche Weltbild ernst, so ist ontologisch gesehen nichts Besonderes am Hier und Jetzt, und auch nicht an mir – die egozentrische Illusion ist ein Kunstgriff der Perspektive, hervorgerufen durch eine selbstsüchtige DNS. Wenn es für mich falsch ist, Qualen zu erdulden, dann ist es falsch für jedermann, überall.

3. WESHALB ES GESCHEHEN WIRD

Es ist also technisch durchführbar. Eine Welt ohne Leid wäre wunderbar, die Entwicklung eines ausgemachten Paradieses noch besser. Aber noch einmal: Wozu? Es ist technisch möglich, einen Cheddarwürfel mit einem Volumen von tausend Kubikmetern herzustellen. Weshalb wird es eine schmerzfreie Welt geben? Vielleicht ist alles nur Wunschdenken. Vielleicht werden wir uns dafür entscheiden, die Biologie des Leids auf unbestimmte Zeit beizubehalten2.

Das Gegenargument hierzu ist, dass wir – ob wir das abolitionistische Projekt befürworten oder nicht – auf eine reproduktive Revolution der Designer-Babys zusteuern. Künftige Eltern werden schon bald die Merkmale ihrer zukünftigen Kinder festlegen. Wir stehen am Vorabend des post-darwinistischen Übergangs, nicht in dem Sinne, dass der Selektionsdruck geringer würde, jedoch wird die Evolution nicht länger „blind“ und „zufällig“ verlaufen: Es wird keine natürliche Auslese mehr geben, sondern eine unnatürliche. Wir bestimmen das genetische Make-Up unserer künftigen Nachkommen, wählen und entwerfen Allele und Allelkombinationen in der Vorwegnahme ihrer Folgen. Es wird ein Selektionsdruck entstehen gegen schlechtere Allele und Allelkombinationen, die in der Umwelt unserer Vorfahren anwendbar waren.

Leider ist dies kein entscheidendes Argument, aber stellen Sie sich einmal vor, Sie würden die genetischen Voreinstellungen für die Stimmungslage – den hedonischen Sollwert – Ihres künftigen Kindes auswählen. Für welche Einstellung würden Sie sich entscheiden? Vielleicht nicht unbedingt für ein lebenslanges Superglück; aber die überwältigende Mehrheit der Eltern wird sich sicherlich glückliche Kinder wünschen. Zunächst einmal macht es mehr Freude, sie aufzuziehen. Die meisten Eltern in allen Kulturen sagen – davon bin ich überzeugt – sie möchten, dass ihre Kinder glücklich sind. Man könnte jenen Eltern skeptisch gegenüberstehen, die behaupten, dass Glück das einzige sei, worum sie sich bei ihren Kindern sorgen – viele Eltern sind sehr ehrgeizig. Doch bei Gleichheit anderer Faktoren signalisiert Glück Erfolg – vielleicht letztendlich der evolutionäre Ursprung der Tatsache, weshalb wir das Glück unserer Kinder genauso hoch bewerten wie unser eigenes.

Das Argument der elterlichen Wahl ist natürlich nicht entscheidend. Nicht zuletzt ist unklar, wie viele Generationen von freien reproduktiven Entscheidungen noch vor uns liegen, bevor radikale Anti-Aging-Technologien immer strengere kollektive Kontrollen unseres Fortpflanzungsverhaltens erfordern, da sich eine anschwellende Population von alterslosen, quasi Unsterblichen innerhalb eines begrenzten physikalischen Raums nicht unbegrenzt vervielfältigen kann. Doch selbst wenn eine zentralisierte Kontrolle der reproduktiven Entscheidungen zur Norm und die Fortpflanzung an sich selten wird, dürfte der Selektionsdruck gegen primitive Darwin'sche Genotypen wohl immens sein. Es ist somit schwer zu sagen, welche zukünftige Gesellschaftsform die bewusste Schaffung einer Prädisposition für depressive oder Angststörungen tatsächlich zulassen würde – oder auch nur die „normale“ Pathologie eines nicht-optimierten Bewusstseins.

Nicht-menschliche Tiere

Bislang habe ich mich auf das Leid einer einzigen Spezies konzentriert. Diese Beschränkung des abolitionistischen Projekts wäre jedoch sehr engstirnig. Allerdings ist unsere anthropozentrische Befangenheit tief verwurzelt. Das Jagen, Töten und Ausbeuten von Vertretern anderer Spezies verbesserte in der Umgebung unserer Vorfahren die Gesamtfitness unserer Gene. [In dieser Hinsicht sind wir dem gemeinen Schimpansen ähnlicher als dem Bonobo.] Anders als beispielsweise beim Inzest-Tabu haben wir keine angeborene Präsdisposition, die uns das Jagen und Ausbeuten nicht-menschlicher Tiere als falsch ansehen ließe. Wir lesen, dass Irene Pepperbergs Graupapagei, mit dem wir letzmals vor einigen hundert Millionen Jahren einen gemeinsamen Vorfahren hatten, das mentale Alter eines dreijährigen Kindes aufwies. Dennoch ist es für so genannte Sportler noch immer erlaubt, Vögel zum Vergnügen abzuschießen. Würden diese „Sportler“ zum Spaß Säuglinge und Kleinkinder unserer eigenen Spezies abschießen, würde man sie als kriminelle Soziopathen einstufen und einsperren.

Hier gibt es also einen Widerspruch: Die Titel-Storys in den Nachrichten-Medien berichten häufig über schreckliche Fälle von Kindeshandlung und -vernachlässigung, entführten Kleinkindern oder verlassenen rumänischen Waisenkindern. Unsere größten Hassfiguren sind Kindesmisshandler und Kindermörder. Andererseits bezahlen wir routinemäßig für die industrialisierte Massentötung von anderen fühlenden Wesen, damit wir sie essen können. Wir essen Fleisch, obwohl es eine Fülle von Beweisen gibt, dass diese nicht-menschlichen Tiere, die wir fabrikmäßig großziehen und töten, in funktionaler, emotionaler und intellektueller Hinsicht – und ganz entscheidend: in ihrer Fähigkeit, zu leiden – menschlichen Babys und Kleinkindern gleichwertig sind.

Aus einer imaginären gottähnlichen Perspektive sollten wir meiner Ansicht nach moralisch ebenso viel Anteil an der Misshandlung von funktionell gleichwertigen nicht-menschlichen Tieren nehmen wie wir es bei Mitgliedern unserer eigenen Spezies tun – an der Misshandlung und Tötung eines Schweins also ebenso sehr wie an der Misshandlung und Tötung eines menschlichen Kleinkindes. Das verletzt unsere menschliche moralische Intuition, aber dieser kann man ohnehin nicht trauen. Sie spiegelt lediglich unsere anthropozentrische Befangenheit wider – nicht nur eine moralische Beschränkung, sondern auch eine Beschränkung des Intellekts und der Wahrnehmung. Nicht, dass es keine Unterschiede zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Tieren gäbe, wie es auch Unterschiede zwischen schwarzen und weißen Menschen, freien Bürgern und Sklaven, Männern und Frauen, Juden und Nichtjuden, Homosexuellen und Heterosexuellen gibt. Die Frage ist vielmehr, ob diese Unterschiede moralisch relevant sind. Dies ist deshalb von großer Bedeutung, weil es moralisch katastrophale Folgen haben kann, wenn wir uns auf einen, zwar vorhandenen, moralisch jedoch unbedeutenden Unterschied zwischen fühlenden Wesen kaprizieren. [Erinnern Sie sich beispielsweise daran, wie Aristoteles die Sklaverei verteidigte. Wie konnte er so blind sein?] Unsere moralische Intuition ist vergiftet von genetischem Eigennutz, sie ist nicht geschaffen für einen unvoreingenommenen, gottähnlichen Blick. Aber größere Intelligenz bringt auch größere kognitive Kapazität zur Empathie mit sich – und möglicherweise ein erweitertes Maß an Mitgefühl. Vielleicht werden unsere superintelligenten/supereinfühlsamen Nachkommen die Misshandlung von nicht-menschlichen Tieren als genauso abstoßend ansehen wie wir eine Kindesmisshandlung: als eine schreckliche Perversion.

Wie dem auch sei, sicher werden wir nicht aufhören, uns gegenseitig zu verspeisen? Unsere eigennützige Befangenheit ist zu stark. Wir mögen den Geschmack von Fleisch zu sehr. Ist die Vorstellung eines weltweiten Veganismus nur ein utopischer Traum?
Vielleicht. Doch innerhalb einiger Jahrzehnte wird die Einführung gentechnisch erzeugter Fleischersatzstoffe bedeuten, dass wir „Fleisch“ essen können, schmackhafter als alles, was wir heute kennen – ohne jegliches Töten und Grausamkeit. Sozusagen als Vorgeschmack auf Kommendes hat sich bei einem Workshop an der Norwegischen Universität für Biowissenschaften im Juni 2007 das „In Vitro Meat Consortium“ formiert. Entscheidend ist, dass das Züchten von Fleisch aus genetisch gestalteten einzelnen Zellen vermutlich unendlich skalierbar ist: Ein globaler Massenkonsum wäre wahrscheinlich billiger als die Verwendung kompletter nicht-menschlicher Tiere. Daher wird – vorausgesetzt, dass wir in der vorhersehbaren Zukunft Gewinnstreben und Marktwirtschaft beibehalten – billiges und köstliches Kunstfleisch wohl die Intensivhaltung und Massentötung unserer Mitgeschöpfe verdrängen.

Man kann sich skeptisch fragen: Wird die Mehrheit der Menschen wirklich Gourmet-Kunstfleisch verzehren, wo es doch preisgünstiger und schmackhafter ist als Fleisch von geschlachteten nicht-menschlichen Tieren? Wenn wir davon ausgehen, dass das Kunstfleisch richtig vermarktet wird, ja.
Wenn wir nämlich feststellen, dass wir den Geschmack des künstlich hergestellten Fleisches dem von getöteten Tieren vorziehen, werden die moralischen Argumente für eine Ernährung ohne Grausamkeit vermutlich wesentlich zwingender erscheinen als heutzutage.

Aber selbst wenn wir einen globalen Veganismus erreichen, gibt es sicher weiterhin schreckliche Grausamkeit in der Natur. Tier-Dokumentationen vermitteln uns einen stark entschärften Eindruck vom Leben in freier Wildbahn: Es macht sich im Fernsehen nicht gut, eine halbe Stunde lang zu zeigen, wie ein nicht-menschliches Tier verdurstet oder verhungert, von einem Raubtier langsam erstickt oder bei lebendigem Leibe gefressen wird. Und muss es wirklich eine Nahrungskette geben? Die Natur ist grausam; aber sind Raubtiere für das Verhindern einer Populationsexplosion und der Malthusianischen Falle nicht unentbehrlich?

Das muss nicht sein. Wenn wir möchten, können wir Depot-Kontrazeption anwenden, das globale Ökosystem neu ordnen und das Wirbeltier-Genom überschreiben, um auch für den Rest der Natur das Leid zu abzuschaffen. Nicht-menschliche Tiere bedürfen nicht der Befreiung, sondern vielmehr der Pflege. Wir haben eine Verpflichtung zur Fürsorge, genau wie gegenüber menschlichen Babys und Kleinkindern, alten und geistig behinderten Menschen. Diese Aussicht mag entlegen klingen, aber die Zerstörung des Lebensraums bedeutet letzendlich, dass alles, was von der Natur später in diesem Jahrhundert übrig bleibt, unsere Naturparks sein werden. Und so, wie wir in Zoos keine verängstigten lebendigen Nagetiere an Schlangen verfüttern – wir wissen, dass es barbarisch ist – würden wir dann in unseren (Land-)Naturparks tatsächlich weiterhin Grausamkeiten zulassen, nur weil sie „natürlich“ sind?

Die letzte Grenze auf dem Planeten Erde ist der Ozean. Intuitiv betrachtet erscheint dies vielleicht als eine zu komplizierte Aufgabe. Der exponentielle Leistungszuwachs bei Computern und Nanorobotik-Technologien bedeutet jedoch, dass wir theoretisch auch das marine Ökosystem umfassend neu gestalten können. Derzeit ist eine solche Umgestaltung noch unmöglich, in einigen Jahrzehnten wird sie computertechnisch durchführbar, aber immer noch eine Herausforderung sein. Schließlich und endlich wird sie uns technisch trivial erscheinen. Die Frage ist also: Werden wird es tatsächlich tun? Sollten wir es tun – oder alternativ dazu den Darwin'schen Status quo beibehalten. Hier befinden wir uns eindeutig im Reich der Spekulation. Man kann sich vielleicht auf etwas berufen, was als „Prinzip des schwachen Wohlwollens“ bezeichnet werden könnte. Im Gegensatz zu der umstrittenen Behauptung, dass Superintelligenz mit Superempathie einhergeht, geht das „Prinzip des schwachen Wohlwollens“ nicht davon aus, dass unsere technologisch und kognitiv fortgeschrittenen Nachkommen auch in moralischer Hinsicht höher entwickelt sind als wir.

Lassen Sie mich das an einem konkreten Beispiel erklären: Vor die Wahl gestellt, Eier von Hühnern aus Freiland- oder Käfighaltung zu kaufen, entscheiden sich die meisten Konsumenten für Eier aus Freilandhaltung. Sind die Eier aus den Legebatterien 1 Cent günstiger, werden sich die meisten dennoch für die nicht-grausame Option entscheiden. Zwar sollte man menschliche Böswilligkeit, Gehässigkeit und Blutrünstigkeit nicht unterschätzen, doch haben die meisten von uns zumindest eine schwache Neigung zum Wohlwollen. Sobald allerdings ein etwas größeres Opfer gebracht werden muss, wenn die Freilandeier beispielsweise 20 Cent teurer sind, lassen die Verkäufe leider drastisch nach. Meine Ansicht ist, dass wenn – und es ist ein großes Wenn – wenn das erforderliche Opfer, das der moralisch Teilnahmslose bringen muss, beseitigt werden kann oder unerheblich ist, könnte das abolitionistische Projekt bis in den letzten Winkel der belebten Welt getragen werden.

David Pearce
(2007)
(siehe auch 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9)


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