Anleitung für eine Welt ohne Grausamkeit
Neuprogrammierung der Räuber
„Und der Wolf soll mit dem Lamm weilen und der Leopard sich mit dem Zicklein niederlegen; und das Kalb und der junge
Löwe und das junge Masttier zusammen – und ein kleines Kind soll sie führen.“
Jesaiah 11:6
„Das gesamte jährliche Ausmaß des Leidens in der freien Natur ist jenseits aller vernünftigen Vorstellung. Während der Minute, die es braucht, um
diesen Satz zu schreiben, werden Tausende von Tieren lebendig gefressen, andere rennen um ihr Leben, winseln vor Angst, wieder andere werden
von Parasiten langsam von innen her aufgefressen, Tausende aller Arten sterben an Hunger, Durst und Krankheit. Es muss so sein.“
Richard Dawkins
Und es entsprang ein Fluß in Eden (1995)
Das Problem der Prädation
Eine Biosphäre ohne Leiden ist technisch machbar. Im Prinzip kann die Wissenschaft eine Welt ohne Grausamkeit schaffen, in der die molekulare Signatur unangenehmer Erfahrung nicht vorkommt. Eine belebte Welt kann nicht nur das menschliche Leben unterstützen – basierend auf vorprogrammierten Abstufungen des Wohlbefindens – zur Gänze ausgeführt beinhaltet das abolitionistische Projekt eine Umgestaltung des Ökosystems, Immunokontrazeption, marine Nanoroboter, das Überschreiben des Wirbeltier-Genoms, sowie die Nutzung des exponentiellen Wachstums computertechnischer Ressourcen, um dieses mitfühlende, globale Ökosystem zu steuern. Letzlich ist es eine ethische Entscheidung, ob intelligente, moralische Subjekte sich dazu entschließen, eine solche Welt zu schaffen – oder stattdessen die Tendenz zu unserem naturgegebenen Status Quo bestätigen und die Biologie des Leidens unendlich fortführen.Diese utopisch klingende Vision ist nicht etwa das Ergebnis einer exotischen neuen Theorie. Das abolitionistische Projekt ergibt sich ziemlich direkt aus der Anwendung einer klassischen utilitaristischen Ethik in Verbindung mit fortschrittlicher Biotechnologie. Ein wenig provokanter ausgedrückt ist das abolitionistische Projekt die wissenschaftliche Folge dessen, was Gautama Buddha vor etwa 2.500 Jahren anstrebte: „Mögen alle, die leben, vom Leiden befreit sein.“ Nehmen wir, bei Gleichheit aller anderen Dinge, zunächst einmal an, dass eine Welt ohne Grausamkeit ehtisch erstrebenswert ist, d.h., es wäre ideal, wenn es keinen [ungewollten] physischen und emotionalen Schmerz gäbe. Mit dem Ausreifen unserer Technologien sind jedoch einige einschneidende Entscheidungen unabwendbar, wenn diese edlen Gedanken jemals in die Praxis umgesetzt werden sollen.
Eine Welt ohne Grausamkeit beinhaltet zunächst den Übergang zu einem globalen Veganismus. Realistisch betrachtet findet ein solcher jedoch innerhalb eines vertretbaren Zeitraumes nicht ausschließlich oder hauptsächlich durch moralische Überzeugung statt. Eine deart bedeutsame Veränderung kann nur durch die Einführung von massenhaft produziertem, gentechnisch gestalteten künstlichem Fleisch („KREA“) erfolgen, das mindestens so preisgünstig, schmackhaft und gesund ist wie das Fleisch von geschlachteten Tieren aus Massentierhaltung – wobei dem moralischen Argument zusätzlich eine geringfügig unterstützende Rolle zukommt. Sicherlich muss auch der „Ekelfaktor“ noch überwunden werden. Doch wenn köstliches, ohne Grausamkeit kultiviertes Fleisch kommerziell verfügbar ist, sollte der „Ekelfaktor“ eigentlich zugunsten des künstlichen Fleisches wirken, da das Fleisch von Tieren aus Massenhaltung nicht nur moralisch, sondern auch physisch abscheulich ist.
Wie dem auch sei, diese Veränderung ist nicht ausreichend. Selbst bei einer hypothetischen weltweiten Annahme einer Ernährung ohne Grausamkeit, bleibt eine immense Quelle des Leidens unberücksichtigt. An dieser Stelle müssen wir eines der heikelsten Themen aufgreifen: die Zukunft derer, die die Biologen „obligate Räuber“ nennen. Das abolitionistische Projekt scheint sich mit einem unserer grundlegenden gegenwärtigen Werte nicht zu decken. Die Notwendigkeit der Erhaltung der Arten ist so axiomatisch, dass eine explizit normative wissenschaftliche Sub-Disziplin, die Konservationsbiologie, existiert, um sie zu fördern. In der heutigen Zeit wird das Aussterben einer Spezies in der Regel als Tragödie gewertet, vor allem dann, wenn es sich um ein bekanntes Wirbeltier und nicht etwa um einen unbekannten Käfer handelt. Wenn wir aber ernsthaft eine Welt ohne Leiden anstreben, wie viele der existierenden Darwin'schen Lebensformen können dann in ihrer jetzigen Gestalt erhalten bleiben? Wie sollte das Schicksal solcher schon ikonisch zu nennenden Arten wie das der großen Fleischfresser letztlich aussehen? Gewiss, nur eine Minderheit der Tierarten der Erde sind fleischfressende Räuber: die grundlegenden Gesetze der Thermodynamik besagen, dass jeder „Energieaustausch“ von einer Trophieebene zu einer anderen mit einem signifikanten Verlust einhergeht. Die Mehrheit der etwa 50.000 Wirbeltierarten der Erde sind Vegetarier. Aber unter der Minderheit der fleischfressenden Arten befinden sich einige der bekanntesten Geschöpfe der Erde. Soll man diesen Serienmördern gestatten, immer weiter andere fühlende Wesen zu erbeuten?
Das Aussterben bestimmter Arten wird allerdings auch heute allgemein befürwortet. So beklagt niemand die Ausrottung des Pocken-Virus in der Natur, wenngleich nach wie vor Uneinigkeit darüber herrscht, ob die beiden letzten pathogenen Variola-Kulturen, die sich in menschlicher Obhut befinden, zerstört werden sollten. Das Virus könnte bei Bedarf von Grund auf wieder hergestellt werden. Technisch gesehen sind Viren nicht am Leben, da sie sich nicht unabhängig replizieren können. In gleicher Weise willkommen wäre die Ausrottung einer großen Anzahl bakterieller Pathogene, die menschliche Krankheiten hervorrufen, wenn wir sie ebenso effektiv betreiben könnten wie im Falle der beiden Variola-Varianten, die Pocken hervorrufen. Ebenso würde die Ausrottung der fünf Arten protozoischer Parasiten der Gattung Plasmodium, welche die Malaria hervorrufen, vermutlich allseits begrüßt. Etwa alle zwölf Sekunden stirbt ein Menschenkind an dieser Krankheit. Protozoen haben kein bzw. nur ein minimales Bewusstsein, was letzlich von unserer eigenen Mentalisierung abhängt. Wie dem auch sei, es macht keinen oder nur wenig Sinn, im Zusammenhang mit Plasmodien von „Interessen“ im wörtlichen Sinne zu sprechen. Nur im übertragenen Sinne haben Plasmodien Interessen. Sie haben nur insofern eine große Bedeutung, als ihre Existenz das Wohlergehen von fühlenden Wesen beeinträchtigt. Unsere Achtung vor der Vielfalt der Lebensformen hat ihre Grenzen. Komplexer als Plasmodien sind parasitäre Würmer, Heuschrecken oder Kakerlaken, die mit großer Sicherheit zumindest über ein eingeschränktes Bewusstsein verfügen, welches jedoch verglichen mit dem der Wirbeltiere relativ schwach ausgeprägt ist. Kakerlaken haben ein dezentrales Nervensystem und verfügen demzufolge sehr wahrscheinlich nicht über ein einheitliches Erfahrungsfeld. Das bedeutet jedoch nicht, dass man sie jemals mutwillig verletzen sollte. Vermutlich können ihre Nervenganglien in bestimmten Abschnitten starke Schmerzen empfinden. Kakerlaken verfügen über rudimentäre Lernfähigkeiten und sind in der Lage, bis zu einer Woche ohne Kopf zu leben. Wenn allerdings die etwa 4.000 Kakerlakenarten dieser Erde außerhalb einiger Vivarien nicht mehr existieren würden, so empfände man ihr Fehlen in der freien Natur in keiner Variante des hedonistischen Kalküls als großen Verlust. Dasselbe gilt für die Ausrottung der Wanderheuschrecke, die wir von Heuschreckenplagen kennen. Ein Schwarm von 50 Milliarden Heuschrecken kann pro Tag theoretisch 100.000 Tonnen Nahrungsmittel vertilgen. Etwa 20% der für den menschlichen Bedarf angebauten Nahrungsmittel wird von pflanzenfressenden Insekten vertilgt. In einer wahrhaft utopischen Zukunft gäbe es nicht den geringsten von Insekten verursachten Hunger, und die Computer-Ressourcen wären in der Lage, das Wohlergehen selbst der niedrigsten Gliederfüßler zu sichern, einschließlich der schätzungsweise 10 Trillionen (1018) Insekten dieser Welt. In der Zwischenzeit müssen wir Prioritäten setzen. Gemäß einer neobuddhistischen oder utilitaristischen Ethik ist das Kriterium für den Wert und den moralischen Status der Grad des Empfindungsvermögens. In einer Darwin'schen Welt hängt das Wohlergehen einiger Geschöpfe jedoch davon ab, dass sie anderen Schaden zufügen. Anfänglich sind hässliche Kompromisse also unvermeidlich, wenn wir uns den Weg hinaus aus dem primitiven Darwin'schen Leben bahnen. Die Forschung muss sich darauf konzentrieren, wie die Abscheulichkeiten der Übergangsphase minimiert werden können.
Umstrittener allerdings als der Fall der Bandwürmer, Kakerlaken oder Heuschrecken wären Neuprogrammierung oder Aussterbenlassen von Schlangen und Krokodilen. Schlangen und Krokodile sind verantwortlich für unzählige scheußliche Todesfälle, die sich täglich in der Welt ereignen. Sie sind jedoch aufgrund von Filmen, Zoos, TV-Dokumentationen und dergleichen auch ein Teil unserer gewohnten konzeptionellen Landschaft, obgleich entspannte Toleranz gegenüber ihrem Verhalten im behaglichen Westen sicher leichter zu erreichen ist als für eine, sagen wir, trauernde indische Mutter, die ihr Kind durch einen Schlangenbiss verloren hat. Schlangen sind für 50.000 menschliche Todesfälle pro Jahr verantwortlich.
Am umstrittensten allerdings wäre die Ausrottung – bzw. die genetisch gesteuerte Verhaltensmodifikation – von Mitgliedern der Katzenfamilie. Wir konzentrieren uns hier auf die Katzenartigen, anstatt auf die „leichten“ Fälle wie parasitäre Bandwürmer oder Kakerlaken, da die Mitglieder der Katzenfamilie in der heutigen menschlichen Kultur einen einzigartigen Status haben, sowohl als Haustiere bzw. Gefährten wie auch als romantisierte Sinnbilder der „Wildnis“. Die meisten heute lebenden Menschen haben eine starke ästhetische Vorliebe zugunsten des dauerhaften Fortbestands der Katzenartigen. Die Existenz in ihrer jetzigen Gestalt ist vermutlich die größte ethische/ideologische Herausforderung für einen radikalen Abolitionisten. Unsere Kultur glorifiziert den Löwen, mit seiner ikonischen Gestalt, als den König der Tiere; wir bewundern die Anmut und Schnelligkeit eines Geparden; der Tiger ist ein Symbol von Kraft, Schönheit und kontrollierter Aggression; der Panther ist geheimnisvoll, schnell und elegant usw. Unzählige Firmen und Sport-Teams nehmen die eine oder andere Großkatze für ihre Embleme in Anspruch, als Symbol für Männlichkeit und Kraft. Überdies sind Katzen in ihrer domestizierten Variante archetypische Haustiere. Weltweit wird die Zahl der Hauskatzen auf etwa 400 Millionen geschätzt. Wir romantisieren ihre Tugenden und sehen über ihre Schwächen hinweg, insbesondere über das verspielte Quälen von Mäusen. Anstatt ein Schreckensobjekt zu sein – und Mitgefühl mit der Maus zu haben – ist das Quälen von Mäusen zu einer stilisierten Unterhaltung geworden. Daher „Tom und Jerry“. Im Gegensatz dazu, kann die Diskussion über das „Ausrotten“ des Jagdverhaltens unheimlich klingen. Was würde „Phasing-Out“ oder „Neuprogrammierung“ der Räuber in der Praxis bedeuten? Beunruhigenderweise evozieren derlei Begriffe die Vorstellung eines Genozids, anstatt universelles Mitgefühl.
Der Schein trügt. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, was beim „Jagen“ wirklich vor sich geht, lassen Sie uns unsere Haltung gegenüber dem Schicksal eines Schweins oder eines Zebras mit dem Schicksal eines Organismus vergleichen, mit dem diese nicht-menschlichen Tiere funktionell gleichwertig sind, sowohl intellektuell als auch in ihrer Fähigkeit zu leiden – nämlich einem menschlichen Kleinkind. Die seltenen Fälle, in denen ein Haushund ein Baby oder Kleinkind tötet, machen große Schlagzeilen. Der angreifende Hund wird in der Folge eingeschläfert. In gleicher Weise werden in Afrika Löwen, die zu Menschenfressern wurden, verfolgt und getötet, und zwar unabhängig von ihrem Schutzstatus. Es geht nicht darum, dem Löwen – oder in unserem Fall dem aggressiven Hund – eine moralische Schuld zu unterstellen. Aber nach allgemeiner Übereinkunft muss man sie vom Töten weiterer Menschen abhalten. Im Gegensatz dazu kann das Schauspiel eines Löwen, der ein zu Tode erschrecktes Zebra jagt und sein Opfer anschließend erstickt, als Abendunterhaltung im Fernsehen gezeigt werden, selbst für Kinder erbaulich anzuschauen. Inwiefern ist diese Parallele relevant? Nun, wenn unsere Wertetheorie eine Sichtweise durch Gottesaugen anstrebt – frei von ungerechtfertigter anthropozentrischer Befangenheit, in der Art der Naturwisenschaften – dann hat das Wohlbefinden eines Schweins oder Zebras naturgemäß nicht weniger Gewicht als das Schicksal des menschlichen Babys – oder jedes anderen Organismus, der mit einem gleichwertigen Empfindungsvermögen ausgestattet ist. Wenn wir moralisch konsequent sind, sollten wir, sobald wir gottähnliche Macht über die Geschöpfe der Natur erlangen, analoge Schritte unternehmen, um deren Wohlbefinden ebenfalls zu sichern. Mit unserer anthropozentrischen Befangenheit sollten wir nicht-menschliche Wirbeltiere nicht nur als in ihrem moralischen Status gleichwertig zu Kleinkindern oder Säuglingen betrachten, wir sollten sie vielmehr derart betrachten, als ob sie Kleinkinder oder Säuglinge wären. Dies ist eine gute Übung, die uns dabei hilft, unsere fehlende Empathie fühlenden Geschöpfen gegenüber zu korrigieren, deren körperliche Erscheinungsform sich von der „unseren“ unterscheidet. Aus ethischer Sicht sollte die Praxis eines intelligenten „Anthropomorphismus“ nicht als unwissenschaftlich gemieden, sondern vielmehr mit einbezogen werden, insoweit er unsere zurückgebliebene Fähigkeit zur Empathie vergrößert. Ein solcher Anthropomorphismus kann ein wertvolles Korrektiv unserer kognitiven und moralischen Einschränkungen sein. Dies ist kein Aufruf zur Sentimentalität – lediglich zu objektivem Wohlwollen – und vor allem kein Aufruf, „Partei“ für Mörder oder Opfer zu ergreifen. Menschliche Serienmörder, die auf andere Menschen Jagd machen, müssen eingesperrt werden. Aber letzlich ist es moralisch gesehen rachsüchtig, diese in irgendeinem engeren Sinne für das Schicksal ihrer Opfer verantwortlich zu machen. Ihr Verhalten ergibt sich aus den fundamentalen Gesetzen der Physik. Tout comprendre, c'est tout pardonner. Allerdings darf diese Nachsicht sich nicht darauf erstrecken, dass man ihnen weiteres Töten gestattet. Abolitionisten sind der Ansicht, dass dasselbe Prinzip auch für nicht-menschliche Serienmörder gilt.
Parasiten, Räuber und Serienmörder
Ersticken erzeugt ein Gefühl von extremer Panik. Im Leben heutiger Menschen ist dies eine vergleichsweise seltene Erfahrung, obgleich Panikstörungen – Angststörungen mit wiederholten starken Panikattacken – äußerst unangenehm und recht häufig sind. Was auch der Grund sein mag, die Erfahrung des Erstickens ist entsetzlich. Die Lungen fühlen sich an, als ob sie jeden Moment platzen. Die Kontrolle über die körperlichen Funktionen geht verloren. Es gibt keine psychologischen „Bewältigungsstrategien“, lediglich eine alles überdeckende Angst, wie die traumatischen Auswirkungen der von der CIA angewandten Waterboarding-Folter belegen, oder die ineinander verkrallten Opfer aus den Nazi-Gaskammern, die, verzweifelt übereinander steigend, nach dem letzen Rest von atembarer Luft schnappten – sowie die Todesqualen von täglich Millionen von Pflanzenfressern in der Wildnis.Eine Gnade, wenn die Erfahrung des Erstickens bei menschlichen und nicht-menschlichen Tieren grundverschieden wäre. Diese liebevolle Hoffnung könnte erfüllt sein, wenn das intuitiv ansprechende „Dimmer-Modell“ des Bewusstseins haltbar wäre – wenn also das Maß des Bewusstseins eines Organismus in verlässlicher Weise an dessen Intelligenzgrad gekoppelt wäre. Das Dimmer-Modell verleitet zu der Annahme, dass sich langsames Ersticken für ein Zebra wesentlich weniger schrecklich anfühlt als für ein menschliches Wesen. Wir stellen uns naiverweise vor, dass das Ersticken für unseren Wirbeltiercousin bestenfalls sehr unangenehm und nicht etwa unerträglich und jenseits aller Beschreibung ist. Unglücklicherweise sind unsere Grundemotionen zugleich auch die stärksten Ausprägungen bewusster Erfahrung – und die Nervenstrukturen, die solche primitiven Bewusstseinszustände herbeiführen, gehören zu den von der Evolution am nachhaltigsten bewahrten. Große Furcht, Ekel, Ärger, Hunger, Durst und Schmerz zählen zu den stärksten Empfindungen, die wir kennen. Sie sind phylogenetisch alt. Großes Wohlbehagen kann natürlich ebenso intensiv empfunden werden. Aber dem gilt unser Augenmerk hier nicht. Verglichen mit der Phänomenologie unserer Grundemotionen ist die Phänomenologie von fortlaufenden „logischen“ Denkabläufen im ausgeprägten menschlichen präfrontalen Cortex nur äußerst schwach, wie Studien mit Mikroelektroden und Introspektion in unsere eigenen linguistischen Denkabläufe belegen. Überdies beinhaltet das Problem mehr als „nur“ die akute Intensität des Leidens. Natur-Dokumentationen verleiten zu der Annahme, dass der Tod in der Natur normalerweise schnell eintritt. Einige Tötungen verlaufen in der Tat gnadenvoll rasch. Viele andere hingegen verlaufen langsam und qualvoll. Um überleben zu können, müssen Mitglieder der Katzenfamilie in der Wildnis anderen Säugetieren schreckliches Leid aufzwingen. Weitaus verstörender ist, dass Hauskatzen noch immer jeden Tag Millionen von verängstigten kleinen Nagern und Vögen quälen, bevor sie sie töten – hauptsächlich zum Vernügen. Katzen fehlt eine angemessene Fähigkeit zur Mentalisierung. Sie haben keinerlei empathisches Verständnis von den Auswirkungen ihres Tuns. Für eine Katze hat die verängstigte Maus, mit der sie „spielt“, keine größere ethische Bedeutung als ein Zombiekämpfer, der von einem Teenager in einem „brutalen“ Videospiel hingeschlachtet wird. Das Fehlen einer bösen Absicht ist allerdings kein Trost für die gequälte Maus.
Den meisten modernen Stadtbewohnern bereiten die Grausamkeiten der Natur keine schlaflosen Nächte, in der Tat denken sie nur selten mehr als flüchtig darüber nach. Vorbehaltlos wird angenommen, dass solches Leiden unbedeutend sei. Und falls es doch etwas bedeutet, dann nicht genug, um es zu mildern oder gar abzuschaffen. Weshalb? Die folgende Liste von Begründungen ist unvollständig, aber lesenswert.
- Unsere aufgrund von Unvermögen angeblich nicht gegebene Mittäterschaft
Fast während ihrer gesamten Geschichte konnte die Menschheit nichts weiter tun, als Neuordnungen in der Nahrungskette zu betrachten, wie sie heute in Betracht ziehen kann, sie zu ändern, sagen wir, das Planck'sche Wirkungsquantum oder der Rest der Masse eines Elektrons. Was in der Natur geschieht, ist in traditioneller Sicht „wie die Dinge eben sind“; es ist daher niemandes Schuld. In Kürze allerdings liegt das Fortbestehen des Leidens nicht-menschlicher Tiere in unserer direkten Verantwortung – ob abgelehnt oder akzeptiert, bleibt abzuwarten.
- Ein vom Fernsehen geprägtes Bild der belebten Welt
Unser Bild der belebten Welt ist in signifikanter Weise von Natur-Dokumentationen geprägt – von der Erzählstruktur des Begleitkommentars und einer erbaulichen Hintergrundmusik. Natur-Dokumentationen sollen sowohl unterhaltsam als auch lehrreich sein. Sie bieten ein Schauspiel von Tod, Gewalt und Aggression, auf eine Art und Weise, die, auf die menschliche Spezies übertragen, inakzeptabel wäre. Aus demselben Grund haben sich die Römer vor Hunderten von Jahren an der blutigen Gewalt in den Amphitheatern erfreut, und werden noch immer nicht-menschliche Tiere von einigen Menschen als „Sport“ gejagt. Ein aktuelles psychologisches Alltagsproblem für viele Menschen ist nicht etwa Schmerz oder Depression, sondern Langeweile, ein Mangel an Anregung. Das Ansehen von Kampf und Tod ist aufregend.
- Selektiver Realismus
Wir mögen unsere Kriegs- und Horrorfilme realistisch – aber nicht zu realistisch. In der selben Weise erwarten wir, dass Natur-Dokumentationen nicht das ganze Ausmaß der Hässlichkeiten der Darwin'schen Welt zeigen, obwohl es zweifellos ein recht beachtliches Publikum dafür gäbe, wie die entsprechenden Besucherzahlen bei YouTube belegen. Die Wahrung des „guten Geschmacks“ sorgt dafür, dass die zarter besaiteten Gemüter eines breiteren Fernsehpublikums vom größten Horror verschont bleiben und sich dennoch am Drama weiden können. Einige Minuten des Anschleichens, der Angriff, der Nervenkitzel der Jagd. Eine fünfsekündige Sequenz, die die Kiefer des Löwen an der Kehle des Zebras zeigt. In der nächsten Kameraeinstellung ein Löwenrudel beim Verzehren einer leblosen Karkasse. Die realistische Darstellung der ganzen Scheußlichkeit der Prädation ist tabu. Wie David Attenborough einmal zu einigen Zuschauern sagte, die sich beklagten, dass die gezeigten Szenen zu grausam seien: „Sie müssten einmal sehen, was wir auf dem Fußboden des Schneideraums zurücklassen.“ Dieser Satz deutet zwar auf den Horror hin, jedoch können Worte diesen nicht wirklich beschreiben. Aber selbst das expliziteste Video könnte nicht die unmittelbare Realität dessen vermitteln, was es bedeutet, zerrissen, erdrosselt, aufgespießt, ersäuft oder bei lebendigem Leibe aufgefressen zu werden. Das hier beschriebene Problem des Leidens in der Natur ist schlimmer – und das Verhindern desselben moralisch dringlicher – als wir annehmen. Stellen Sie sich zum Beispiel einmal vor, was es bedeutet, in der Trockenzeit über mehrere Tage hinweg langsam zu verdursten. Das Drama ist hier vielleicht nicht so offensichtlich. Aber subjektiv betrachet ist es einfach entsetzlich. Daher die ethische Verpflichtung der dominanten Spezies, derlei Horror zu beenden, sobald wir die technischen Möglichkeiten dazu erlangt haben.
- Adaptive Empathie-Defizite
Menschliche Empathie-Reaktionen werden durch natürliche Auslese geformt. Genetisch gesehen erhöht es die Fitness, wenn Eltern Empathie für die Gefühle ihrer Nachkommen empfinden – unzweckmäßig hingegen ist es, wenn Sie Mitleid mit der „Nahrung“ ihrer Kinder empfinden. Der Selektionsdruck zugunsten der Empathie für andere Rassen oder Spezies – bzw. genetische Rivalen – ist nur schwach bis überhaupt nicht ausgeprägt, da er unseren reproduktiven Erfolg nicht fördern würde – außer insofern, als er unsere Vorfahren befähigte, erfolgreicher zu jagen und zu töten bzw. ihre Feinde zu überlisten. Das menschliche Gehirn ist nicht dafür angelegt, sich um das Wohlergehen anderer Mitglieder unserer Spezies, jenseits der Grenzen des eigenen Stammes, zu kümmern, und schon gar nicht um das Wohlergehen aller anderen fühlenden Wesen. Derartige Empathie tritt zwar gelegentlich auf, aber sie ist punktuell – und unbeabsichtigt. Ihre Existenz ist ein Nebenprodukt einer fitnessverbessernden Anpassung. Die Diskussion konzentriert sich hier auf Empathie-Defizite, die aus einer anthropozentrischen Befangenheit resultieren. Das ultimative Empathie-Defizit rührt jedoch von einer egozentrischen Befangenheit her. Verbindungen eigennütziger Gene erzeugen Vehikel, deren egozentrische virtuelle Welten das Wohlergehen anderer fühlender Wesen nicht objektiv berücksichtigen. Vermutlich können lediglich Klone (also eineiige Zwillinge, Drillinge, etc.) dies in „natürlicher“ Weise verlässlich tun.
- Die Grausamkeiten der belebten Welt sind „natürlich“ und daher wert, bewahrt zu werden: Ein gerechtfertigter Preis für die Herrlichkeit der Natur.
Die Dinge sollten so sein, weil sie schon immer so waren. Die Tendenz zum Status Quo ist endemisch. So scheint es beispielsweise nicht vorgekommen zu sein, dass einigen ansonsten klugen Denkern in sklavenhaltenden Gesellschaften der Gedanke gekommen ist, die Sklaverei könne moralisch falsch sein. Hätte man ihnen die Idee der allgemeinen menschlichen Freiheit unterbreitet, so hätten sie dies vermutlich als dumm empfunden, wie etwa, wenn heutzutage die Unantastbarkeit der Nahrungskette infrage gestellt wird. Unter Umständen kann die Tendenz zum Status Quo jedoch auch gnädige Formen annehmen. Wenn wir bereits in einer Welt ohne Grausamkeit leben würden, so wäre die Absicht, Leiden, Ausbeutung und gegenseitiges Auffressen wieder einzuführen, weniger schrecklich als unvorstellbar – so wie heutzutage niemand ernsthaft beabsichtigt, Operationen wieder ohne Narkose durchzuführen. Natürlich sollte das Ausmaß unserer Tendenz zum Status Quo nicht übertrieben werden. Intensiver Schmerz zeigt, so lange er andauert, dass offensichtlich etwas nicht in Ordnung ist, und in mehr oder weniger großem Ausmaß können wir diese dringliche Empfindung auf andere leidende Wesen übertragen, mit denen wir uns identifizieren. Da sich aber die meisten Menschen die meiste Zeit nicht in Todesangst befinden, haben all diese Verallgemeinerungen die Tendenz, zu schwach zu sein, und – aufgrund unserer evolutionären Abstammung – eingeschränkt.
Ausrottung oder Neuprogrammierung
1. Ausrottung
Eine Lösung gegen die Barbarei der Prädation wäre der flächendeckende Einsatz von Depot-Kontrazeption bei Fleischfressern, was deren rasches Aussterben zur Folge hätte, wobei der daraus resultierende Populationszuwachs der „Beute“-Spezies durch selektivere Formen der Depot-Kontrazeption gesteuert werden müsste. Solche fortgeschrittenen computergestützten Kontrazeptionstechologien könnten selektiv bei Zebras, Büffeln, Gnus, etc. eingesetzt werden, um Überbevölkerung in unseren Naturparks zu vermeiden. Die Durchführbarkeit eines solchen Populationsmanagements zeigt sich bei der fruchtbarkeitsreguliedenden Depot-Kontrazeption, wie sie bei männlichen Elefanten im Kruger-Nationalpark anstelle der schrecklichen Praxis des Abschießens angewandt wird. Die meisten menschlichen Naturenthusiasten ziehen den Einsatz von Depot-Kontrazeption als Mittel zur Populationskontrolle der Tötung von Elefantenfamilien vor. Allerdings widerstrebt ihnen die Vorstellung, dass es sogar in unseren Naturparks keine Löwen mehr geben könnte. Das mag sein. Jedoch sind die Argumente für eine selektive Ausrottung keinesfalls absurd, auch wenn wir sie nach reiflicher Überlegung ablehnen. Weshalb Lebensformen fetischisieren, die mit einer angeborenen Tendenz, andere zu jagen und zu erdrosseln, ausgestattet sind? Parallelen zum Dritten Reich sollte man möglichst sparsam einsetzen, manchmal sind sie jedoch angemessen. Es lohnt sich, zu fragen, weshalb es eine so große Gemeinschaft im Web gibt, die die schwarz uniformierte SS und ihre Insignien faszinierend findet – viel faszinierender als, sagen wir, die farblosen Apparatschiks des sowjetischen Innenministeriums oder die Schrecken des Gulag, oder den fast vergessenen ottomanischen Genozid an den Armeniern. Wenn mit Großtuerei durchgeführt, können uns extreme Macht und Gewalt faszinieren. Zum Glück hat unsere Faszination durch stylische Manifestationen des Bösen ihres Grenzen: eine makellose SS sieht wesentlich eleganter aus als ihre Opfer auf dem Weg zur Erstickung in die Gaskammern; aber wir werden sie nicht erhalten oder gar wieder erstehen lassen, außer in Filmen. Manche monströsen Lebensformen verbannt man am besten endgültig in die Archive. Aufgrund derselben Merkmale ist das Schauspiel, wenn große Raubtiere ihre verängstigten Opfer jagen und ersticken, visuell fesselnder als das harmlose Äsen der Pflanzenfresser. Was würden Sie lieber im Fernsehen sehen? Wenn es hier fehlgeleitete Emotionen gibt, dann liegt es an der Fetischisierung des Starken, Attraktiven und Mächtigen über das Sanfte und Verletzliche.Man sollte (weil dieser Vorwurf von Zeit zu Zeit erhoben wird) immer wieder darauf hinweisen, dass diese Anklageschrift gegen Raubtiere nicht den Zweck verfolgt, Löwen [oder Hauskatzen] für ihr Verhalten zu tadeln. Erstens sind Löwen – wenn man Gentechnik und Launen der Natur außen vor lässt – obligate Fleischfresser. Zweitens verstehen sie die Implikationen ihres Tuns nicht. Jeder mutierte Löwe mit der Fähigkeit zur Mentalisierung und Empathie für seine Beute, würde schnell von „soziopathischen“ Löwen „ausgezüchtet“. Ohne menschliches Eingreifen würde ein solcher mitfühlender Löwe, der das „Gesetz des Dschungels“ ablehnt, verhungern – seine Nachfahren ebenso. Löwen sind „soziopathisch“ gegenüber den Mitgliedern ihrer Beute-Spezies, genau wie sich in der gesamten Geschichte viele Menschen den Mitgliedern anderer Rassen und Stämme gegenüber soziopathisch verhalten haben – wobei Sklaverei weiter verbreitet war als Kannibalismus. [„Nichts erregt unseren Ekel stärker als Kannibalismus, jedoch machen wir den gleichen Eindruck auf Buddhisten und Vegetarier, da wir uns ebenfalls von Babys ernähren, wenn auch nicht von unseren eigenen.“ Robert Louis Stevenson] Wie auch immer, das Ausrottungs-Szenario für die prädatorischen Lebensformen muss ernst genommen werden – jedoch nicht aus einem naiven Moralismus heraus. Der engagierte Abolitionist kann vorsichtig voraussagen, dass in einigen Jahrhunderten Löwen außerhalb von digitalen Archiven nicht mehr existieren – genau wie das Pockenvirus. Aus diesem Grund könnte man auch voraussagen, dass der ungezähmte Homo Sapiens demselben Schicksal anheim fällt. Die konditionell aktive Fähigkeit, in blutrünstiger und sexuell aggressiver Weise zu handeln, mag in der Vergangenheit genetisch sinnvoll gewesen sein. Wir sind allesamt Nachfahren von Mördern und Vergewaltigern. Genetiker behaupten, dass über 16 Millionen der heute lebenden Menschen von Dschingis Khan abstammen könnten. Die Voraussage beinhaltet jedoch nicht die Befürwortung dieses Umstands.
Überdies, selbst wenn – im Gegensatz zu dem, was wir hier behaupten – man glaubt, dass Löwen und Geparden in exakt ihrer jetzigen Gestalt von Natur aus wertvoll sind – so gibt es dennoch Opportunitätskosten für ihre Existenz – wobei die Opportunitätskosten dem Wert des nächstbesten alternativen Geschöpfs entsprechen, das durch das Vorziehen einer Lebensform vor einer anderen aufgegeben wird. Sind die Mitglieder der Katzenfamilie eine wirklich ideale Lebensform? In einer Welt mit begrenzten Ressourcen kann nur ein geringes Spektrum von Phänotypen aus dem gesamten abstrakten Zustandsraum der möglichen Genome zum Ausdruck kommen. Nehmen wir an, dass, was wahrscheinlich ist, (Post-)Humane in kurzer Zeit halbgottähnliche Macht darüber haben, welche Lebens- und Bewusstseinformen in der belebten Welt Bestand haben. Die ökologischen Ressourcen – ja selbst Masse-Energie – werden immer noch begrenzt sein. Wenn wir uns dazu entschließen, Löwen zu instatiieren, so bringt deren Existenz es mit sich, dass wir andere Arten ihrer Lebensgrundlage berauben. Die Entscheidung, dass Löwen existieren sollten, ist die Bestätigung, dass es in gewisser Hinsicht besser ist, dass soziopathische Tötungsmaschinen auf der Erde umherstreifen als alternative Pflanzenfresser. Genau genommen trifft dieses Argument letztlich auch auf den archaischen Homo Sapiens zu. Ist der Quell-Code unserer konstitutiven Substanz und Energie optimal organisiert? Oder wäre es nicht besser, unsere DNA neu zu konfigurieren, um eine Spezies glücklich-superintelligenter „smarter Engel“ zu erzeugen. Der Unterschied ist, dass archaische Menschen wahrscheinlich aussterben werden, nicht durch äußere Einwirkung, sondern indem wir zunehmend unseren eigenen Quell-Code überschreiben, die „menschliche Natur“ neu programmieren und uns den Weg zur Post-Humanität bahnen.
2. Neuprogrammierung
Oder sollten fleischfressende Räuber genetisch „umprogrammiert“ oder anderweitig in ihrem Verhalten modifiziert werden, anstatt sie in der „Wildnis“ aussterben zu lassen? Vorausgedacht ist eine solche Neuprogrammierung alles andere als unmöglich. In der Praxis ist die technische Kompetenz hierfür wahrscheinlich höchstens noch ein paar Jahrzehnte entfernt. Es gibt bereits jetzt Ausblicke auf post-darwinistisches Leben, wenn auch auf individueller Ebene und nicht bei einer ganzen Spezies.a) Ein Beispiel aktueller Verhaltensmanagement-Technologien ist die Schaffung ferngesteuerter Ratten („Ratbots“). In das Lustzentrum des Gehirns implantierte Elektroden veranlassen die Ratte, bestimmten Instruktionen zu folgen, sozusagen aus freiem Willen – zumindest aus der Sicht der Ratte. Forscher gehen davon aus, dass derart ausgestattete Nager bei der Suche von Landminen oder verschütteten (menschlichen) Erdbebenopfern eingesetzt werden können. In der Zukunft gibt es nichts, was verhindern könnte, diese Technologie weiträumig – zusammen mit Minikameras und GPS-Positionierungsgeräten – bei fleischfressenden Räubern einzusetzen, um diese von soziopathischer Gewalt gegenüber anderen fühlenden Lebensformen abzuhalten. Tatsächlich kann mit einem geeigneten Verstärkungsplan der wildeste Fleischfresser zu einem Musterbewohner unserer Naturparks werden. Vermittels einer geeigneten Überwachung und Computerkontrolle könnten ganze Gemeinschaften von Ex-Räubern umsichtig in die Normen eines nicht gewalttätigen Verhaltens eingeführt werden. Da zu keiner Zeit die Schmerzzentren des Gehirns stimuliert werden, wohnt dem Verhaltensumbildungsprozess keine „Inhumanität“ inne. Noch empfindet das erweiterte Tier jemals, dass es gegen seinen Willen handelt. Ja, der Ex-Räuber ist ein „Sklave“ seines Belohnungskreislaufs. Aber das sind Menschen auch. [„Alle Menschen streben nach Glück. Dies gilt ohne Ausnahme. Welche Mittel sie auch immer dafür anwenden, das Ziel ist stets dasselbe. Ob jemand in den Krieg zieht, oder ein anderer es vermeidet, entspringt in beiden Fällen demselben Bestreben, begleitet von unterschiedlichen Sichtweisen. Es ist das Motiv aller Handlungen aller Menschen, selbst jener, die sich erhängen.“ Blaise Pascal]. Den Mitgliedern der gelenkten Spezies könnten als Belohnung für ihr „vortreffliches“ Verhalten in der Tat unendlich großzügige Dosen puren Glücks verabreicht werden.
Im Gegenzug dazu könnte man Mitgliedern der „Beute“-Spezies mit gentechnischen Mitteln die derzeit sehr begründete Furcht vor den Räubern nehmen. Um es noch einmal zu sagen: Diese Neuprogrammierung ist technisch gewaltig. Aber bedenken Sie einmal, wie Nagetiere, die mit dem parasitären Protozoon Toxoplasma Gondii infiziert sind, ihre normale Furcht verlieren und Plätze, die mit Katzenurin markiert sind, regelrecht aufsuchen. Sowohl Pharmakologie als auch Neuroelektroden und Gentechnologie bieten mögliche Lösungen für die Molekularpathologie der Angst, wenn deren Fortbestehen funktionell überflüssig geworden ist. Auf lange Sicht können dieselben Arten von hedonischer Bereicherung, Intelligenz-Erhöhung und Lebensverlängerungs-Technologien, die später in diesem Jahrhundert den Menschen zur Verfügung stehen, auf den gesamten phylogenetischen Baum angewandt werden. „Gesundheit ist ein Stadium vollständigen physischen, mentalen und sozialen Wohlergehens, nicht nur die Abwesenheit von Krankheiten und Gebrechen“, heißt es in der Satzung der Weltgesundheitsorganisation. Das abolitionistische Projekt erweitert diese Zusicherung von vollständigem physischem, mentalem und sozialem Wohlergehen über die Grenzen unserer Spezies hinaus auf (letztendlich) alle fühlenden Wesen. Derlei Erweiterungen klingen derzeit realitätsfremd. So hätte aber auch vor 200 Jahren eine Beschreibung des heutigen menschlichen Gesundheitswesens geklungen. Es geht um dasselbe ethische Prinzip. Kontraintuitiv bedeutet das „Gesetz des sich beschleunigenden Nutzens“ der Computer-Rechenleistung, dass der Übergang zu universellem Wohlbefinden in einigen Jahrzehnten statt Jahrtausenden vonstatten gehen könnte, vorausgesetzt, es bestünde ein staatlicher Konsens – für marine Ökosysteme sind jedoch Jahrhunderte sicher ein zutreffenderer Zeitrahmen.
b) Ein weiterer Ausblick darauf, wie die Neuprogrammierung sich auswirken könnte, findet sich „natürlich“ in der Wildnis. Von 2002 bis 2004 adoptierte eine Löwin in Zentralkenia, genannt Kamunyak („die Gesegnete“ in der Sprache der Samburu), mehrere Oryxantilopen-Babys, insgesamt mindestens sechs Mal. Sie verteidigte jedes Jungtier gegen andere Raubtiere, einschließlich Leoparden und verwandte hungrige Löwen. Kamunyak ließ es hin und wieder auch zu, dass eine Mutterantilope das Kalb füttern konnte, bevor sie diese wieder verjagte. „Die Löwin muss an einer geistigen Verwirrung leiden“, erklärte ein UNESCO-Mitarbeiter in Nairobi. Im Prinzip kann dieses übermäßige Pflegeverhalten von eusozialen Säugetieren wie Löwen in genetisch optimierten Fleischfressern nutzbar gemacht werden, um die Mitglieder jener Spezies zu schützen, die sie derzeit jagen. In diesem Szenario müsste auch eine fertige Mahlzeit aus gentechnisch hergestelltem Fleisch aufgetragen werden, es sei denn, man würde radikalere Eingriffe vornehmen, um die derzeitige Physiologie des Löwen zu verändern. Bislang existiert In-Vitro-Fleisch lediglich als Kuriosität in Laboratorien. Von kommerziellen Produkten sind wir noch ein Jahrzehnt oder mehr entfernt. Aber die massenhafte Produktion kultivierten Fleisches für „wilde“ Fleischfresser oder fleischfressende Haustiere dürfte sich als einfacher erweisen als die Herstellung der Textur von gentechnisch produziertem Fleisch, das den wesentlich höheren Ansprüchen einer menschlichen Gourmet-Mahlzeit gerecht wird.
Die technischen Details eines solchen Programms sind natürlich, vorsichtig ausgedrückt, herausfordernd. Die Natur hat nur wenige Nahrungsketten im strengen Sinne, komplexe Nahrungsnetze dagegen im Überfluss. Ein Ökosystem kann jedoch nur fünf oder sechs Trophieebenen bedienen, zwischen den tatsächlich nicht-fühlenden Primärproduzenten und den großen jagenden Fleischfressern an der Spitze der trophischen Pyramide. Lediglich 10% der Energie eines Organismus gehen an seinen Jäger über, der Rest geht als Wärme an die Umgebung verloren. Die Probleme eines humanen Ökosystem-Managements sollten in einem gut geführten Naturpark computertechnisch steuerbar sein. Die gesamte afrikanische Löwenpopulation wird auf derzeit 30.000 Tiere geschätzt (im Gegensatz zu rund 400.00 im Jahr 1950). Die Anzahl der Löwen verringert sich schnell aufgrund des Verlusts von Lebensraum und Konflikten mit Menschen. Die verbleibenden Löwenpopulationen sind oft räumlich voneinander isoliert. Inzucht und Mangel an genetischer Vielfalt verstärken sich. Außerhalb von Zoos und „Naturparks“ werden Löwen ohne menschliche Intervention bald aussterben, wie die meisten anderen großen Säugetiere der Erde in diesem Jahrhundert als Folge des zurückgehenden Lebensraums ebenfalls aussterben werden. Zum Beispiel gehen jährlich etwa 2% des artenreichsten Bioms der Erde, des immergrünen tropischen Regenwalds, verloren. Neuprogrammierung und Verhaltensmanagement-Technologien können, wenn wir dies wünschen, das zivilisierte Überleben von reformierten Löwen und ihren Verwandten garantieren, zur Freude menschlicher Ökotouristen.
Eine kritische Reaktion auf die Aussicht der Neuprogrammierung von fleischfressenden Jägern lautet wie folgt: Ein quasi domestitizierter Löwe, der nicht auf Mitglieder einer anderen Spezies Jagd macht, ist kein echter Löwe mehr. Es ist die ureigenste Natur des Löwen, Mitglieder der Beute-Spezies (und gelegentlich auch Hyänen, Geparden und sich gegenseitig) zu töten. Ja, Löwen töten ihre Opfer auf eine grausame Weise, die man als „bestialisch“ bezeichnet, wenn Menschen ihre Mitmenschen auf diese Weise töten. Doch dieses Verhalten ist für Löwen völlig natürlich: Es ist Teil ihres „Verhaltensphänotyps“. Das Jagdverhalten ist ein natürlicher Teil des Wesens ihrer Spezies.
Doch hier kommen wir zum Kern der Sache: der angeblichen moralischen Kraft des Begriffs „natürlich“. Wenn irgendein Wesen aufgrund seiner ureigensten Natur schreckliches Leiden verursacht, wenn auch unabsichtlich, ist es dann moralisch falsch, diese Natur zu verändern? Wenn ein zivilisierter Mensch zu der Einsicht kommen müsste, dass er/sie Taten begangen hat, die ohne triftigen Grund schrecklichen Schmerz verursacht haben, dann würde er/sie damit aufhören – und würde außerdem wollen, dass andere moralische Subjekte die Wiederholung solchen Verhaltens verhindern. Dürfen wir annehmen, dass dasselbe auch auf einen Löwen zuträfe, wenn dieser moralisch und kognitiv „auf einer höheren Stufe“ stünde, sodass er die Auswirkungen seines Handelns versteht? Oder auf eine Hauskatze, die eine Maus quält? Oder tatsächlich auf einen menschlichen Soziopathen? Derzeit ist Soziopathie bei Menschen nicht heilbar, jedoch stehen mehrere Interventionsmöglichkeiten zur Debatte, sowohl genetische als auch pharmakologische. Wenn eine Therapiemöglichkeit besteht, sollte die Behandlung dann angeboten werden? Derzeit müssen menschliche Serienmörder lebenslang eingesperrt werden. Eine „Heilung“, die es menschlichen Serienmördern ermöglichen würde, zu wirklich pro-sozialen, empathischen Wesen zu werden, würde ihnen ihre frühere Identität in der Tat „rauben“. Eine solche Intervention wäre „koerzitiv“, vielleicht nicht im strengen Wortsinn, faktisch jedoch insofern, als die Alternative in unbegrenztem Einsperren besteht. Dasselbe gilt für wiederholt gewalttätige Sexualstraftäter. Nun stellen Sie sich ein anderes Löwenverhalten vor, dessen Praktizierung durch einen Menschen dessen lebenslange Inhaftierung zur Folge hätte. Ein erwachsener männlicher Löwe ist genetisch darauf programmiert, in ein fremdes Rudel einzudringen, den Rudelführer herauszufordern, und (wenn der eindringende Löwe siegreich ist), systematisch die Nachkömmlinge des besiegten Löwen zu töten. Das Töten der Nachkommen seines Rivalen hilft, die inklusive Fitness seiner eigenen DNA zu maximieren. Deren Mutter wird danach wieder brünstig, sodass sich der eindringende männliche Löwe mit ihr paaren und seine eigenen Nachkommen zeugen kann. Rund ein Drittel aller Löwenjungen kommt auf diese Weise um. Zum Glück spielt sich zwischen menschlichen Stiefvätern und jungen Stiefkindern nichts ähnlich mechanistisches ab. Statistisch gesehen ist es jedoch wesentlich riskanter, als Stiefkind erzogen zu werden als von seinen beiden biologischen Eltern. Wenn es therapeutische Möglichkeiten gäbe, die helfen würden, feindselige Gefühle von Stiefvätern gegenüber jungen Stiefkindern zu unterdrücken, wäre ihr Einsatz wünschenswert? Viele Stiefväter bespielsweise würden dies vielleicht begrüßen. Ansonsten vernünftige Eltern sind möglicherweise verstört durch die feindseligen Gefühle, die sie ihren Stiefkindern gegenüber empfinden – obwohl die große Mehrheit der Stiefeltern diese nicht in solch extremer Weise auslebt wie es die männlichen Löwen tun. Kindestötung ist grausaum, unabhängig von der Spezieszugehörigkeit des Täters. In der Zukunft kann ihr Auftreten in unseren Naturparks verhindert werden, auch wenn dafür die „natürlichen“ Genome der Bewohner verändert werden müssen.
Ein All-Spezies-Wohlfahrtsstaat?
„Wer einen Ochsen tötet, ist wie der, der einen Mann erschlägt“
(Jesaiah 66:3)Im Verlauf des letzten Jahrhunderts wurde für die Menschen in den westeuropäischen Gesellschaften der Wohlfahrtsstaat eingeführt, damit die am meisten gefährdeten Mitglieder unserer Spezies kein vermeidbares Elend leiden müssen. Doch selbst in einigen wohlhabenden westlichen Ländern ist die Absicherung beklagenswert unzulänglich, vor allem in den USA. Die Versorgung in den Ländern der Dritten Welt reicht von exzellent über lückenhaft bis hin zu fast nicht vorhanden. Und gemessen an den Standards unserer Nachfahren dürfte unsere heutige Gesundheitsversorgung rudimentär wirken. Aber zumindest ist das Bekenntnis zum zugrunde liegenden Prinzip allgemein akzeptiert: Niemand sollte verhungern, bzw. Tod oder Erschöpfung aufgrund vermeidbarer Krankheiten erleiden. In gleicher Weise soll eine allgemeine Bildung Chancengleichheit für alle schaffen. Allgemeine Gesundheitsfürsorge soll sicherstellen, dass jeder medizinische Versorgung erhalten kann. Kinder-Hilfsorganisationen greifen ein, wenn gefährdete Kinder in Gefahr sind, missbraucht oder vernachlässigt zu werden. Anfänglich haben Sozialdarwinisten die Einführung solcher Absicherungen angeprangert, Eugeniker befürchteten, dass der Wohlfahrtsstaat den „Unfitten“ ermöglichen würde, ihre „schlechten“ Gene fortzupflanzen und zu verbreiten. Fundamentalistische Anhänger einer freien Marktwirtschaft beklagten, dass ein soziales Netz den Habitus männlicher Eigenständigkeit aushöhlen würde, und so fort. Doch die Notwendigkeit für zumindest grundlegende soziale Garantien scheint nun offensichtlich, obwohl nach wie vor Kontroversen über deren Art und optimales Ausmaß bestehen – und über die Finanzierung. Sozialdarwinismus in seiner Rohform hat heutzutage nur wenige Verfechter neben den Anhängern von Ayn Rand. Das Problem liegt nicht nur darin, dass die Fürsorge nicht angemessen ist, sie ist auch willkürlich spezies-abhängig. Genau wie die Notlage gefährdeter Menschen vor der Einführung einer allgemeinen Versorgung ist das Wohlergehen gefährdeter Nicht-Menschen in der Hauptsache von privater Fürsorge abhängig. Es bestehen keine universellen Garantien für das Wohlergehen nicht-menschlicher Geschöpfe. Vivisektion, die Abscheulichkeit der Massentierhaltung und die industrialisierte Massentötung von nicht-menschlichen Tieren bestehen ungehindert fort. Jenseits unserer nächsten Verwandten, den großen Menschenaffen, scheint die Ausdehnung staatlicher Wohlfahrts-Garantien auf andere Spezies „in der freien Natur“ eine zu weit hergeholte Option, als dass man sie einer eingehenden kritischen Betrachtung unterzöge. Wohltätigkeit beginnt sprichwörtlich zu Hause, kümmern wir uns also zuerst um „unsere“ Spezies. Die Idee der Gestaltung eines anteilnehmenden Ökosystems hat keine große ideologische Debatte ausgelöst, da die Gründe für den Erhalt des ökologischen Status Quo als zu offensichtlich angesehen werden als dass diese verteidigt werden müssten; und das transformative Potential von Bio-, Informations- und Nanotechnologie ist noch kaum genutzt. In traditioneller Sicht natürlich schien die Natur einfach zu groß. Wenn man überhaupt eine Rechtfertigung für die Leiden der Wildtiere für nötig hielt, so versuchte man die Grausamkeiten der Natur dergestalt zu rationalisieren, als man behauptete, dass die Jagd auf die Kranken und Schwachen „zum Nutzen der Spezies“ sei. Dieses Märchen ist wissenschaftlich allerdings nicht mehr haltbar. Natürliche Auslese findet nicht auf dieser Ebene statt. Darüber hinaus ist es un-darwinistisch, davon auszugehen, dass eine fundamentale ontologische und ethische Kluft zwischen „uns“ und „jenen“ besteht, zwischen den Primaten des Genus Homo und den nicht-menschlichen Tieren. In jeglicher universellen Ethik muss der mehr inklusiv als kontrastierend anzuwendende Begriff „wir“ auf alle fühlenden Wesen ausgedehnt werden.
Wie auch immer: Das größte Hindernis für die Neuprogrammierung der Räuber und die Gestaltung anteilnehmender Ökosysteme ist nicht irgendeine Weltanschauung, sondern einfach die Tendenz zum Status Quo. Die meisten Argumente, die gegen die Abschaffung des Leidens beim Menschen angeführt werden, greifen in Bezug auf nicht-menschliche Tiere überhaupt nicht. Die Qualen der Mitglieder anderer Spezies werden die Opfer nicht dazu veranlassen, große Kunstwerke oder Literatur hervorzubringen, ihren Charakter zu bilden, interessante Vergleiche zu ziehen, Möglichkeit zur persönlichen Entwicklung bieten, usw. Sie sind lediglich scheußlich und naturgemäß sinnlos. Dem Anschein nach ist die Neuprogrammierung des Quell-Codes der restlichen belebten Welt computertechnisch betrachtet unendlich viel schwieriger als eine Neuprogrammierung des Menschen. Doch sollte die Unermesslichkeit dieser Aufgabe auch nicht übertrieben werden. Denn die technischen Herausforderungen der Neuprogrammierung von nicht-menschlichen Tieren sind in mancherlei Hinsicht einfacher zu überwinden als beim Menschen. Einer der größten Hemmschuhe gegen dauerhafte Stimmungsverbesserung beim Menschen ist nicht das Herstellen von bloßer Freude – mit Wireheading oder Speedballs ist dies heute schon möglich. Das wirklich schwierige ist die Neuprogrammierung unseres Belohnungskreislaufs, ohne dabei unsere soziale Verantwortung und kognitive Leistung zu beeinträchtigen – und zwar nicht nur die bloße Klugheit, wie sie in IQ-Tests gefordert wird, sondern auch subtilere Fähigkeiten wie beispielsweise Kreativität, empathisches Verständnis, Introspektion – und vielleicht auch die Fähigkeit zu fundamentalen Selbstzweifeln, in denen künftige intellektuelle Revolutionen ihren Ursprung haben könnten. Kurz, die Herausforderung liegt darin, das Superglück davor zu schützen, „opiumgeschwängert“ oder manisch zu werden. Ähnliche Bedingungen in Bezug auf künftiges Glück von nicht-menschlichen Tieren sind entweder nicht im gleichen Ausmaß oder überhaupt nicht gültig. Die Aussicht auf „Löwen auf Soma“ mag surrealistisch anmuten, aber es ist schwer einzusehen, weshalb diese Vorstellung als rücksichtlos oder unmoralisch angesehen werden sollte.
Nach Sachlage der Dinge ist das abolitionistische Projekt eher eine Skizze als eine Anleitung. Die Schaffung von akademischen Forschungsprogrammen hat also eine hohe Priorität, damit abolitionistische Studien zu einer präzisen wissenschaftlichen Disziplin werden können. Eine solche Disziplin wird nicht wertfrei sein, jedoch auch nicht normativer als die Konservationsbiologie – oder wissenschaftliche Medizin. Ein wichtiger Aspekt einer solch umfassenden Ökosystem-Neugestaltung ist eine vorherige Computersimulation – die eingehende Suche nach zunächst unerwarteten Nebeneffekten derartiger Eingriffe in die verschiedenen Trophieebenen der „Nahrungskette“. Philosophische Manifeste können über technische Probleme hinwegsehen – die Naturpark-Managementteams müssen sich damit auseinandersetzen. Wie auch immer, der Abolitionismus muss akademisch und politisch etabliert werden, mit organisierten Strukturen und entsprechenden Interessenverbänden. Eine Welt ohne Grausamkeit erfordert koordiniertes nationales und regierungsübergreifendes Handeln, sowie Einwirkung auf UN-Ebene, in einem bislang nicht gekannten Ausmaß.
Begreiflicherweise können Skeptiker solche Szenarien als bloße Technophantastereien abtun. Die soziologischen, ethisch-religiösen und ideologischen Hindernisse bei der Schaffung eines planetenweiten grausamkeitsfreien Ökosystems können unüberwindlich erscheinen, selbst wenn die tatsächliche technische Durchführbarkeit anerkannt ist. Aber die Voraussage einer globalen Zunahme antispeziesistischer Ethik als Gegenstück zur antirassistischen Ethik ist nicht so unwahrscheinlich, wie es zunächst scheinen mag. Betrachten Sie die zentralen Dogmen der großen Weltreligionen. In welchem Ausmaß ist das abolitionistische Projekt eine verdeckte Implikation einiger unserer Grundwerte? „Ahimsa“ (dieser Begriff aus dem Sanskrit bedeutet „kein Leid zufügen“ – wörtlich: das Vermeiden von Gewalt – „himsa“) ist ein zentraler Aspekt der Religionen aus dem alten Indien: Hinduismus, Buddhismus und vor allem des Jainismus. Ahimsa ist eine Verhaltensregel, die das Töten oder Verletzen lebender Wesen verbietet. Die Neugestaltung des Ökosystems, die hier vertreten wird, ist im Grunde die wissenschaftliche Ausprägung von Ahimsa in globalem Ausmaß, ohne dessen karmische Metaphysik. Es ist zutreffend, dass die jüdisch-christlichen und islamischen Religionen in der Vergangenheit den Interessen nicht-menschlicher Tieren weniger wohlwollend gegenüberstanden als die nicht-abrahamitischen Traditionen des indischen Subkontinents. Über einen langen Zeitraum der christlichen Ära galt Vegetarismus in Westeuropa als Ketzerei. Gottes biblische Verheißung der „Herrschaft“ des Menschen über den Rest des Tierreichs wurde allgemein als göttliche Lizenz zur Unterdrückung und Ausbeutung betrachtet. Jedoch kann „Herrschaft“ auch (neu) interpretiert werden als verantwortungsvolle Verwaltung. Was, wenn Jesaiah 66:3 [„Wer einen Ochsen tötet, ist wie der, der einen Mann erschlägt“] zutrifft, und sich der Löwe wirklich mit dem Lamm niederlegen kann. Würde ein anteilnehmender Gott wollen, dass wir die Biologie des Leidens aufrechterhalten, wenn deren Fortführung zur Option geworden ist? Bedenken Sie außerdem, dass (mit einer Ausnahme) alle 114 Suren des islamischen Koran mit den Worten „Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen“ beginnen. Der Name Gottes lautet im Koran meist "al-Rahim", was wörtlich übersetzt „der All-Mitfühlende“ bedeutet. Jede Andeutung, dass Gottes Mitgefühl im Vergleich zu den moralischen Vorstellungen bloßer Sterblicher eingeschränkt sein könnte, scheint blasphemisch. Der Prophet Mohammed spricht von der Notwendigkeit „allumfassender Gnade“. Gemäß einer Überlieferung (Hadith Mishkat 3:1392) lehrte Mohammed, „dass alle Geschöpfe wie eine Familie zu Allah gehören und derjenige der Meistgeliebte ist, der höchstes Mitgefühl für seine Familie hegt“. Wenn Informationstechnologie, Nanorobotik und Biotechnologie ausreifen – oder sich deren Entwicklung beschleunigt – werden religiöse und profane Ethiker vielleicht gleichermaßen die maximale Linderung des Leidens als eine grundlegende Prämisse betrachten, von welcher Abweichungen der Rechtfertigung bedürfen – nicht indessen eine radikal neue Ethik, die an sich nach Rechtfertigung verlangt. In beinahe allen Zukunftsszenarien ist vorgesehen, dass wir „Gott spielen“. Wir sollten also danach streben, anteilnehmende Götter zu werden und die Grausamkeit des darwinistischen Lebens durch etwas Besseres zu ersetzen.
David Pearce (2009)
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with many thanks to translator Stefan Meid (see too 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 )
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